André Rieu

Von Pizza allein kann man nicht leben

Seinem Publikum serviert André Rieu stets leichte Kost, privat hingegen achtet er auf eine ausgewogene Ernährung. Ein Gespräch über langweilige Sinfonien, gekürzte Klassiker, Pläne für eine Pizzeria und die Frage, was genau er auf seiner teuren Geige eigentlich spielt.

André Rieu

© Universal Music

Es mag verwundern, doch bei dem großen Erfolg von André Rieu geht es nicht um dessen Qualitäten auf der Geige. Zwar ist er auf fast jedem Foto mit dem Instrument zu sehen, doch im Konzert spielt der 64-jährige Holländer meist im Einklang mit seinem Orchester und nur sehr selten solistisch. Es sind vielmehr seine Entertainer-Qualitäten, die jährlich Hunderttausende Zuhörer in seine Konzerte locken und die Fähigkeit, aus Klassik, Pop, Schlagern und Walzern eine Art sinfonische Party zu kreieren.

Herr Rieu, wie wählen Sie die Werke aus, die Sie aufführen?
Rieu: Das ist ganz einfach: Das mache ich natürlich mit meinem Herzen. Wenn mich ein Stück berührt, dann weiß ich, dass es mein Publikum berührt – in welcher Art und Weise auch immer. Wenn ich will, dass sie weinen, weil ich geweint habe, als ich das Stück zum ersten Mal gehört habe, dann arrangiere ich es so, dass es beim Publikum auch so rüber kommen wird.

Gibt es ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit?
Rieu: Ja, ich hatte im August 2013 die Jostiband eingeladen, mit uns auf der Bühne zu stehen. Das ist ein Orchester für geistig behinderte Menschen. Und die haben das „Hallelujah“ von Leonard Cohen gespielt. Das hat mich sofort total berührt, danach habe ich für sie und meine Solisten ein Arrangement gemacht. Das war wirklich schön. Und das Publikum war, genau wie ich, sehr angetan davon.
Als Nelson Mandela starb, waren wir gerade auf England-Tournee. Kimmy Skota, unsere südafrikanische Sängerin, hat zu diesem Anlass ein bekanntes Lied aus Südafrika gesungen, wir haben Fotos von Mandela eingeblendet. Ich möchte programmatisch flexibel bleiben um auf aktuelle Ereignisse reagieren zu können.

Könnten Sie sagen, wie ein Stück musikalisch beschaffen sein muss, damit es in Ihre Show passt?
Rieu: Das ist meine Intuition. Einmal auf Tour waren wir mit Kollegen einer Fernsehproduktion nach dem Konzert in einer Bar. Mein Pianist hatte ein dickes Buch mit allerhand Stücken dabei, die haben wir einfach so durchgespielt und ich habe gesagt, ob es passt: Nein – nein – nein – ja! Und der Kerl von der Produktionsfirma hat am nächsten Tag zu mir gesagt: „Jetzt habe ich verstanden: Sie machen das einfach mit Ihrer Intuition.“

Muss die Musik „schön“ sein?
Rieu: Das kommt drauf an. Schön ist ja relativ. Der eine findet Mozart schön, der andere nicht. Wieder andere empfinden Wagners „Ring“ kurzweiliger und schöner als eine Operette von Offenbach. Wir spielen Musik, die ich als berührend empfinde, die mich anspricht. Und die ist meistens schön, ja.

Und harmonisch?
Rieu: Für meine Programme schon. Ich denke, das ist mein Geheimnis. Obwohl: Was heißt Geheimnis? – Es funktioniert einfach so.

In Ihrem Programm sind einige Stücke dabei, zu denen die Leute sich bewegen können.
Rieu: Ja, aber auch nicht alle. Ich hoffe allerdings, dass sie sich bewegen, wenn ein Walzer gespielt wird. Dazu ist er ja da.

Man kann bei Ihnen häufig mitklatschen…
Rieu: Das ist auch nicht bei allen Stücken der Fall. Wissen Sie, es gibt heutzutage mehr und mehr Leute, die mich studieren und sich fragen: „Was ist das Geheimnis von André?“ Die mich von rechts nach links und von oben nach unten analysieren. (lacht) Die kommen mit allerhand Erklärungen, dass ich die klassische Musik zu einer Einheitswurst forme. – Dass bei mir die Leute unglaublich glücklich nach Hause gehen, davon spricht keiner.

Mich persönlich hat interessiert, was Sie für Werke spielen.
Rieu: Es ist alles. Für ein großes Open Air Konzert ist das Programm natürlich anders, als für einen Saal, wo ich die totale Ruhe habe. Obwohl ich sagen muss, dass die Leute auch draußen total still sind, wenn wir ein „Don’t cry for me Argentina“ oder „Time to say Goodbye“ spielen.

Zitiert

Eine ganze Sinfonie würde mich langweilen.

André Rieu

Könnten Sie sagen, wen Sie von den heutigen Komponisten, egal aus welchem Genre, besonders mögen?
Rieu: Ich halte Andrew Lloyd Webber für einen genialen Komponisten, er hat viele wunderbare Sachen geschrieben.

Gehen Sie selbst eigentlich noch in klassische Konzerte?
Rieu: Ich möchte gerne, aber ich weiß nicht, wann ich das auch noch machen soll. Wir sind fast das ganze Jahr auf Tournee.

Wann waren Sie denn zuletzt bei einem Konzert?
Rieu: Oh, das ist lange her. Ich glaube, das war in Wien, als das Concertgebouw-Orchester eine Mahler-Sinfonie gespielt hat. Das hat mir sehr gut gefallen, ein Top-Orchester, ein Top-Saal. Meine Frau erinnert sich besonders gerne an die Besuche in der Wiener Staatsoper. Sie liebt Opern.

In Ihrer Autobiographie schreiben Sie über Konzerterlebnisse, dass es Ihnen oft zu ernst ist.
Rieu: Ja, das ist auch so.
Vor kurzem war einer der Direktoren des Concertgebouws in meinem Konzert und hat mit viel Respekt darüber gesprochen, wie ich das alles hier auf die Beine stelle, ohne Subventionen. Er sagte, dass das Concertgebouw es auch nicht leicht hat. Deswegen haben sie jetzt zum Beispiel eine Road-Soap für’s Fernsehen gemacht. Man konnte den Leuten sozusagen hinter die Bühne folgen. Zum Beispiel sah man einen Klarinettisten und eine Geigerin, die verheiratet sind, sie verabschieden sich und ihre Kinder sind traurig, weil die Eltern jetzt auf Tour gehen. Da steckt Emotion drin. – Das hat viel Gutes bewirkt, plötzlich verstehen die Leute: Hey, die Orchestermusiker, das sind normale Menschen.

So eine Nähe zum Publikum zu schaffen ist wichtig?
Rieu: Ja, dass man mal aus dieser elitären, strengen Haltung herauskommt. Sicher gibt es auch Leute im Klassik-Bereich, die sagen: „Nein, ich brauche das nicht, ich weiß schon, wie Mahler klingt, ich muss nicht wissen, wer die Geigerin ist“. Aber durch so etwas können auch andere Leute den Zugang bekommen.

Wie wichtig sind Geigen-Soli in Ihren Konzerten?
Rieu: Das hängt vom Programm ab, ob ich Lust darauf habe, oder ob es ins Programm passt. Ich mache jedes Jahr ein anderes Programm.

Gibt es einen bestimmten Komponisten, den Sie noch aufführen wollen?
Rieu: Wenn ich was Tolles höre, klar, warum nicht. Aber ich plane das nicht. 2013 war ABBA neu, das hatten wir vorher noch nicht gemacht. Anlass war das 40-jährige Jubiläum von „Waterloo“, so ist diese Idee entstanden.

Wenn Sie ein Werk auswählen, dann wird es auch arrangiert…
Rieu: Ja.

Was macht man da genau, was verändert man?
Rieu: Oh, da müssten Sie mal in eine Probe von uns kommen und das miterleben. Ich überlege, welche unserer Instrumente zu welchen Melodien des Originals am besten passen könnten. Bei „The Winner Takes it All“ hatte ich zum Beispiel für die Hauptmelodie sofort ein Violinsolo im Kopf. Bei „Chiquitita“ übernehmen die Bachtrompeten die Melodie in der zweiten Strophe. Man muss versuchen zu spüren, wie man die Stimmung des Originals noch verstärken kann.

Sie verändern zum Beispiel den Klang.
Rieu: Ja, wenn ich Lust darauf habe, dann mache ich das. Johann Strauss zum Beispiel hat das oft gemacht: Wenn die Räumlichkeit zu klein war, dann hat er die Hälfte von seinem Orchester zuhause gelassen, und da war dann wieder ein anderes Arrangement zu hören.

Sie haben u.a. Chopins Etüde Opus 10. Nr. 3 arrangiert. Hören Sie dann lieber das Original oder Ihre Version?
Rieu: Ich habe nun mal eine Schwäche für Streicher, also da ist mir die orchestrierte Version lieber als die original Klavieretüde.

Was fügen Sie dem Original hinzu?
Rieu: Das, was ich fühle. Ich denke dann sehr oft: Wenn Chopin jetzt gelebt hätte, dann hätte er das genau so gemacht.

Trifft das auch auf den Schostakowitsch-Walzer zu, den Sie mit einem Chor ergänzt haben?
Rieu: Früher war bei meinem Arrangement noch kein Chor dabei. Jetzt toure ich mit einem Chor, also singen die mit. Das hat keinen intellektuellen Hintergedanken, da muss ich Sie enttäuschen.

Was würde passieren, wenn Sie mal eine ganze Beethoven-Sinfonie aufführen?
Rieu: Das würde ich nicht machen. Da fühle ich mich viel zu beengt. Ich kenne die ganze Klassik und habe darin gelebt, mein Vater war Dirigent. Ich kenne das alles, aber ich möchte es nicht machen. Vielleicht kann man das mit einem Schauspieler vergleichen, der den „Hamlet“ spielen soll. Da gibt es eben auch andere, die stattdessen nach L.A. gehen, berühmte Filme machen und sich damit besser fühlen.

Und Sie würden nicht „Hamlet“ am Theater spielen sondern den großen Hollywood-Film drehen?
Rieu: Ich denke ja. Ich habe einen guten Kontakt zu Anthony Hopkins, der sagt das auch. Wenn ihn intellektuelle Kritiker fragen, „Warum spielen Sie in so einem Film, wenn Sie doch in London Shakespeare am Theater aufführen können?“ – dann antwortet er: „I do it for the money“ (lacht) und dann verziehen alle ihre Gesichter.
Nein, ich würde es nicht so krass sagen, „nur fürs Geld“ – aber eine Beethoven-Sinfonie, da fühle ich mich zu beengt.

Warum „beengt“, das ist doch schöne Musik?
Rieu: Nein, eine ganze Sinfonie nicht, das würde mich langweilen. Ich nehme den schönsten Teil daraus, wenn ich das machen würde. Ich würde einen Satz aus der Sinfonie nehmen, den kürzen und dann einen Hit draus machen.
Außerdem gibt es genug klassische Orchester auf der Welt, die das komplett spielen. Unseren Erfolg macht ja gerade aus, dass wir ganz anders sind. Wir sprechen damit ein Publikum an, dass sich vielleicht nicht in die großen Konzertsäle traut, dem Mahler, Bruckner, Bartok zu „schwer“ sind. Die fühlen sich bei uns wohl. Da sind Leute, die haben seit Jahren nicht mehr getanzt. Bei uns stehen die auf und machen das, das ist doch fantastisch.

Spielen Sie denn mal Mozarts „Kleine Nachtmusik“ komplett?
Rieu: Nein, nur die schönsten Teile. Unsere Abende sind kein Konzertabende im „klassischen“ Sinn. Es sind immer Potpourris.

André Rieu bei einem Fototermin in seinem Haus bei Maastricht  © Jakob Buhre

André Rieu bei einem Fototermin in seinem Haus bei Maastricht © Jakob Buhre


Es gibt in klassischer Musik auch viel Dramatik und Konflikte. Ist Ihnen die fröhliche Seite der Klassik lieber?

Rieu: Ja. Konflikte, Dramatik, das finde ich alles schön und gut, aber nicht bei mir auf der Bühne. Ich habe im Leben genug Konflikte und Dramatik gehabt, ich mag die sonnige Seite vom Leben.
Man kann ganz leicht einen Abend mit Drama und sonstwas komponieren – aber es ist viel schwieriger, die Menschen zum Lachen zu bringen. Das gefällt mir viel mehr.
Außerdem: In jeder deutschen oder holländischen Kleinstadt gibt es Sinfonie-Orchester, die all diese Sinfonien spielen. Ich kenne die alle, aber mir ist das zu langweilig.

Sie würden damit vermutlich auch nicht den großen Vrijthof in Ihrer Heimatstadt Maastricht füllen, auf den jedes Jahr Tausende Menschen zu Ihren Konzerten kommen.
Rieu: Nein, das sowieso nicht. Die würden alle einschlafen und sagen: Dafür bin ich nicht gekommen, aus England.

Sind Sie mal eingeschlafen im Konzert?
Rieu: Früher, als Kind ja.

Bei den Konzerten von Ihrem Vater?
Rieu: Ja, ich war immer bei allen Konzerten dabei.

Was hat Ihnen damals gefallen?
Rieu: Als ich 14 war, war Barock alles für mich und ich wollte Barockmusiker werden. Dann wurde ich älter, hörte wieder mehr Romantik und später habe ich durch meine Frau Marjorie Operetten und leichtere Musik total schätzen gelernt. Ihr Vater hatte eine riesige Schellackplattensammlung. Das hat mich so geformt, wie ich jetzt bin.

Sind Sie mehr Dirigent oder Solist?
Rieu: Puh, ich bin in dem Sinne weder reiner Dirigent oder Solist, oder Entertainer, oder Geschäftsmann. Ich bin eine Kombination – und darum habe ich Erfolg, denke ich.
Ich habe Geige studiert, aber nicht im klassischen Sinne Dirigieren oder BWL oder so gelernt. Aber ich kann dirigieren, und ich kann vor allem Musik machen.

Was genau spielen Sie in Ihren Konzerten, die erste Geigenstimme?
Rieu: Ich spiele, was mir einfällt.

Sie sind auf vielen Fotos mit Geige zu sehen…
Rieu: Logisch, das ist mein Image, ich bin auch bekannt als Geiger.

Und Sie besitzen ein sehr wertvolles Instrument.
Rieu: Ich besitze drei Geigen, darunter eine Stradivari von 1732. Dass ich diese Geige habe, ist für mich persönlich eine große Freude und macht Spaß.

Wie viel Stunden spielen Sie pro Tag?
Rieu: Wenn ich Interviews gebe, weniger. Und wenn ich Ferien habe, freue ich mich, mich mit meiner Geige zurückzuziehen und zu üben. Man muss üben. Use it or loose it. Ein paar Stunden pro Tag ist schon gut.

Was tun Sie gegen Routine?
Rieu: Gibt es nicht bei mir. Es macht immer Spaß, ich bin immer nervös, denn mein Publikum ist für mich immer ein unbekanntes Teil. Ich kenne meinen Job, aber ich weiß nicht, wie das Publikum darauf reagiert. Und wenn ein Abend schlecht wäre, würde das Publikum nicht mehr zurück kommen. Dass muss es aber, denn mich bezahlt keiner, ich muss das selbst zusammenverdienen.
Ich bin übrigens der einzige in der Welt, der das so macht. Alle anderen Orchester sind subventioniert. Das finde ich ok, aber ich mache es selbst.

Und Sie sind wirklich noch aufgeregt?
Rieu: Ja. Anders würde es nicht funktionieren. Man kann nicht 100 bis 120 mal pro Jahr gelangweilt auf die Bühne gehen. Das würden die Leute sofort merken.

Was ist typisch holländisch an Ihnen?
Rieu: Ich glaube nichts. Ich fühle mich nicht wie ein Holländer, eher wie ein Weltbürger. Das Einzige, was vielleicht holländisch an mir ist, dass ich ‚down to earth‘ bin. Das sind wir Holländer ganz gerne. „Tu normal, dann bist du schon verrückt genug“.

Sind Sie eigentlich ein guter Walzer-Tänzer?
Rieu: Nein, ich spiele lieber Walzer. Auf der Bühne muss ich auch nicht tanzen, da kann ich Abstand nehmen und den anderen dabei zuschauen, das ist viel schöner.

In Ihrer Autobiographie steht, Sie hätten beinahe mal ein Pizza-Restaurant aufgemacht.
Rieu: Wir wollten tatsächlich mal eine Pizzeria aufmachen, aber es blieb am Ende nur eine Idee. Wir haben damals schon eine Menü-Karte gemacht und die teuerste Pizza war „Pizza Paganini“. Der Plan war, dass ich Geige spiele, während diese Pizza serviert wird. Aus dem Grund fing ich wieder an zu üben – und dann dachte ich: Nein, ich lasse die Pizzeria weg.

Wenn Sie auf Tour sind, haben Sie zwei Köche dabei.
Rieu: Ja, manchmal sogar drei. Das ist wichtig für die Gesundheit.

Wird auch Pizza serviert?
Rieu: Nein. Pizza ist ungesund. Pizza ist nur Mehl. Pizza ist eigentlich ein Armenessen gewesen, früher in Italien.

Aber wenn man Kinder fragt…
Rieu: …man darf doch Kinder nicht fragen, was gesund ist! Sonst essen sie nur was lecker ist und Pizza. Von Pizza allein kann man nicht leben.
Mein Geheimrezept für gesunde Ernährung: Zwei mal pro Woche weißes Fleisch, zwei Mal pro Woche weißer Fisch, einmal pro Woche rotes Fleisch, ein mal pro Woche fetter Fisch – und ein mal pro Woche dürfen Sie zu McDonald’s gehen, wenn Sie wollen. Wenn Sie das befolgen, dann leben Sie gesund.

André Léon Marie Nicolas Rieu wurde am 1. Oktober 1949 als Sohn einer achtköpfigen Musikerfamilie in Maastricht, Niederlande geboren. Dort befindet sich auch sein heutiger Wohnort, sowie Firmensitz mit eigenem Tonstudio. Den ersten Geigenunterricht mehr

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