Sahra Wagenknecht

Der Mensch hat etwas Besseres verdient als die Gesellschaft, die wir heute haben.

Sahra Wagenknecht über ihre Wortwahl, das Verhältnis von Politik und Religion, die Entwicklung in Ägypten, Konflikte innerhalb der Linken, Arroganz im Bundestag und den Weltuntergang

Sahra Wagenknecht

© Nicole Teuber

Frau Wagenknecht, ich habe Ihnen ein Foto mitgebracht.
Wagenknecht: Oh, Fidel Castro auf einem Bild mit dem Papst … (beim Kuba-Besuch des Papstes 2012, siehe auch hier)

Was fällt Ihnen spontan dazu ein?
Wagenknecht: Nun, der Papst ist ja ein widersprüchlicher Mensch, in bestimmten Bereichen stockkonservativ, man muss sogar sagen reaktionär. Da er andererseits aber auch Kapitalismuskritik geäußert hat, die durchaus Hand und Fuß hat, war die Begegnung mit dem alten Revolutionsführer Castro sicherlich spannend und ich könnte mir vorstellen, dass es vielleicht auch ein paar Punkte gibt, wo sie einer Meinung sind.

Hätten Sie eine Überschrift für das Bild?
Wagenknecht: So spontan nicht.

Die Berliner Zeitung hat drüber geschrieben „Gläubige unter sich“.
Wagenknecht: Ach… Gut, natürlich ist die Überzeugung als Marxist auch eine Art Glauben, ich würde es nur nicht auf eine Ebene mit dem religiösen Glauben stellen.

Aber worin ähneln sich diese Überzeugung und der religiöse Glaube?
Wagenknecht: Ich habe keinen hundertprozentigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass der Kapitalismus überwindbar ist, auch nicht dafür, dass ein attraktiver Sozialismus funktionieren kann, es ist meine Grundüberzeugung, aber ich kann es nicht beweisen. Kuba sieht sich mit extremen Problemen, auch extern, konfrontiert, und das frühere System in Osteuropa war äußerst fragwürdig. Dennoch ist das für mich kein Grund, mich mit dem Kapitalismus abzufinden. Ich gehe davon aus, dass der Mensch etwas Besseres verdient hat als die Gesellschaft, die wir heute haben. Ich glaube eben daran, dass es anders geht.

Und dieser Glaube gibt Ihnen auch Kraft, immer weiter zu machen?
Wagenknecht: Naja, man darf ihn im Politikalltag nicht verlieren, wenn man ständig mit tausend Details und tausend Terminen zugeschüttet wird. Viele, die hauptamtlich Politik machen, vergessen irgendwann, warum sie da überhaupt reingegangen sind. Das kann man ja gerade bei einer Partei wie der SPD sehen. Ich billige vielen zu, dass sie Politiker geworden sind, weil sie die Verhältnisse verbessern und mehr soziale Gerechtigkeit wollten…

Aber?
Wagenknecht: Irgendwann kommt der Termindruck, die angeblichen Zwangslagen, die angebliche Alternativlosigkeit, und im ganzen Alltagsstress hat man dann tatsächlich keine Zeit mehr, über Alternativen nachzudenken. Dann funktioniert man einfach nur noch. Es ist für jeden Politiker eine Herausforderung, eine solche Entwicklung zu verhindern.

Ihnen hilft dabei der Glaube.
Wagenknecht: Also, es geht nicht darum, dass man morgens eine Andachtsstunde macht und „ich glaube an den Systemwechsel“ betet. Es geht eher darum, dass man sich die Freiheit und auch die Zeit bewahrt, um noch selbstständig geistig zu arbeiten. Zu lesen, sich mit guten Beiträgen – auch vom anderen politischen Spektrum – zu beschäftigen, mit Literatur und Kultur, geistig aktiv zu bleiben, auch selbst zu schreiben. Man kann nur Politiker sein, wenn man sich geistig Freiräume bewahrt.

Insbesondere die Literatur haben Sie schon häufig als Ihren Rückzugsort genannt.
Wagenknecht: Für mich ist das ein Ausgleich, es gibt einem eine andere Weite des Denkens, gerade wenn man so eine Sitzungswoche hinter sich hat: viel Kleinklein, unschöne Auseinandersetzungen oder gemeine Presseartikel, über die man sich ärgert. Wenn man dann ein gutes Buch liest, löst sich das auf, dann bekommt man einen anderen Blick, auch einen Blick von außen auf das Politikgeschäft.

Die Literatur hilft beim Politikmachen?
Wagenknecht: Wenn ich mir große Literatur angucke, dann ist die immer von der Grundhaltung geprägt, dass der Mensch trotz aller Verbrechen und Übeltaten am Ende auch zum Guten und Schönen fähig ist, dass er irgendwann doch noch gesellschaftliche Verhältnisse erreicht, die eher seine positiven Eigenschaften fördern als die miesen wie Habgier und Egoismus. Die Lektüre von Thomas Mann, Goethe oder Shakespeare motiviert mich, weil ich dadurch sehe, dass das, wofür wir heute kämpfen, nichts völlig Neues ist, sondern schon über Jahrhunderte Menschen bewegt und von den Werten her große Kultur geprägt hat.
Außerdem finde ich, dass man bestimmte Traditionen einfach kennen sollte. Wenn man sich auf Marx bezieht, aber Hegel, Kant und Aristoteles nicht gelesen hat, dann hat man auch Marx nur halb verstanden.

Ich möchte noch einmal zum Thema Religion zurückkommen, konkret zur Entwicklung in Ägypten nach der Entmachtung Mubaraks: Können Sie es verstehen, wenn nach solch einer Revolution die Menschen einen Präsidenten wählen, der sagt ‚Der Koran ist unsere Verfassung‘?
Wagenknecht: Es ist Sache der Ägypter, ihre Regierung zu wählen. Nach dem Wahlausgang zu sagen, die Ägypter seien nicht klug genug, um ordentliche Demokratie zu gestalten, wäre arrogant und unangemessen. Viele Faktoren beeinflussen eine Wahlentscheidung, Bildung, aber auch Tradition. Ägypten ist stark islamisch geprägt. Die Islamisten gewinnen Rückhalt, weil sie in der Regel mit gewissen sozialen Versprechen und Zusagen daherkommen. Sicher hätte ich mir gewünscht, dass nach diesem unglaublichen Aufbegehren, diesem Freiheitswunsch, der sich in der Bewegung widergespiegelt hat, in Ägypten eine fortschrittliche Regierung an die Macht gekommen wäre.

Ist diese religiöse Bindung für Sie ein Rückschritt?
Wagenknecht: Klar, es war eine demokratische Wahl, die Menschen haben Mohammed Mursi gewählt. Aber nun droht ein islamistisches Regime. Wenn in einem Land die Scharia eingeführt wird, dann ist das natürlich barbarisch, das kann man nicht als progressive Entwicklung werten.

Können Sie in der heutigen Zeit Verständnis aufbringen für eine Theokratie?
Wagenknecht: Sehr schwer. Religion dient immer häufiger als Vorwand für die Einführung diktatorischer Regime. Mit dem Verweis auf das bessere Leben im Jenseits wird nur zu oft brutale Unterdrückung im Diesseits gerechtfertigt und Widerstand unterdrückt. Ich finde das sehr bedrohlich. Ich bin für die strikte Trennung von Religion und Staat. Übrigens auch hier in Deutschland, auch wenn sich die Situation hier natürlich nicht mit der Situation in einem Land wie dem Iran oder Ägypten vergleichen lässt. Aber es ist noch nicht so lange her, dass auch in Europa Regenten nicht nur weltliche, sondern auch geistliche Führer waren. Das Beispiel der Kirchensteuer zeigt, welch enge Verbindung auch in diesem Land immer noch existiert. In den 50er Jahren spielte die Kirche noch eine ganz massive Rolle in der Bundesrepublik, wenn die Kirche für eine bestimmte Partei geworben hat, dann wurde diese Partei – gerade in den ländlichen Gebieten – auch deshalb gewählt. So lange ist das nicht her, insofern können wir nicht so tun, als seien wir als Europäer schon immer emanzipiert gewesen.

Wie sieht für Sie das ideale Zusammenspiel von Staat und Kirche aus?
Wagenknecht: Ich wünsche mir ein Verhältnis, in dem man die Freiheit hat, religiösen Aktivitäten nachzugehen, aber völlig unabhängig vom Staat. Und statt Religionsunterricht in den Schulen sollte es ein Fach geben, in dem ein Überblick über die verschiedenen Religionen gegeben und Toleranz und Verständnis gelehrt wird, anstatt zu versuchen, die Kinder im Sinne einer bestimmten Religion zu prägen.

Sind Sie denn immer noch der Meinung, dass „Religiosität eine aufhebbare historische Erscheinung“ ist, wie Sie es in den 90er Jahren einmal formuliert haben?
Wagenknecht: Das kann man nicht wissen. Irgendwann sind die Religionen entstanden und es könnte sein, dass sie sich irgendwann wieder verlieren. Zumindest in Europa sinkt ihr Einfluss momentan.

Wenn wir nun über unser Gesellschaftssystem sprechen und über Ihren Kampf für einen Systemwechsel – wer sind Ihre Gegner in diesem Kampf?
Wagenknecht: Zunächst mal diejenigen, die ein elementares Interesse daran haben, dass sich nichts ändert, weil sie vom heutigen System profitieren. Dazu gehören jene, die in der Finanzwirtschaft in hohen Funktionen sind, denn wenn man die Banken regulieren würde, wäre Schluss mit Millioneneinkommen aus Zockerei. Zudem sind es die großen Anteilseigner der Konzerne, die Familiendynastien Klatten/Quandt oder Haniel zum Beispiel müssten dann selbst arbeiten, anstatt jedes Jahr hunderte Millionen Erträge aus ihrem ererbten Betriebsvermögen ohne jede Gegenleistung einzustecken.

Und die Gegner in der Politik?
Wagenknecht: Die politischen Parteien, die sich eher den genannten sozialen Schichten verpflichtet fühlen, das ist dann quasi der politische Gegner. Wobei ich es bei der SPD seltsam finde: Die wird von diesen Schichten ja nicht gewählt, trotzdem steht sie seit Gerhard Schröder für eine Politik, die am Ende hauptsächlich dem oberen 1 Prozent dient.

Gibt es für Sie gute und böse Politiker?
Wagenknecht: Nein. Mir ist eine andere Unterscheidung wichtig: Es gibt Politiker, die aus Überzeugung handeln und es gibt Opportunisten. Vor denen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, keine eigene Substanz haben und alles mittragen, habe ich relativ wenig Achtung. Aber wenn jemand seinen Überzeugungen treu geblieben ist – die können sich von meinen auch weit unterscheiden – dann habe ich davor Respekt. Das sind dann meistens Menschen, die sich eben nicht stromlinienförmig in die Politik einbinden lassen.

Zum Beispiel?
Wagenknecht: Jemand wie Peter Gauweiler: Er ist ein überzeugter Konservativer, aber er ist eben auch jemand, der sagt: Mit meinen Traditionen ist es überhaupt nicht vereinbar, wenn Steuergeld für Zockerbanken herausgeworfen wird. Deshalb wehrt er sich dagegen.
Genauso würde ich behaupten, dass jemand, der überzeugter Liberaler ist, unmöglich die heutige Politik der FDP mittragen kann.

Die ihrer eigenen Überzeugung treu bleiben, ist das die seltenere Art von Politiker?
Wagenknecht: Auf jeden Fall sind sie in der Minderheit, sonst hätten wir eine andere Politik. Wenn SPD-Politiker in ihrer Mehrheit aus Überzeugung handeln würden, hätte es eine Agenda 2010 nicht geben dürfen, dann hätten sie Gerhard Schröder zum Teufel gejagt.
Es ist leider so, dass sehr viele mit einer Überzeugung in die Politik gehen, aber irgendwann schleift sich das ab. Sie rechtfertigen vor sich selbst jedes kleinere Übel, bis dieses kleinere Übel so groß ist, dass vom eigenen ursprünglichen Anspruch nichts übrig bleibt.

Hans-Christian Ströbele sagte uns im Gespräch, dass viele Politiker, auch in Bezug auf „Grausamkeiten wie bei der Gesundheitsreform und bei den Arbeitslosen“ der Überzeugung sind: „Wir machen das im Interesse des Wohl des Volkes.“
Wagenknecht: Ich glaube, dass sich das viele so schönreden. Aber wer wirklich darüber nachdenkt – wenn ich Leiharbeit einführe, die Rente zerschlage, wenn ich die Arbeitslosenversicherung kaputt mache und durch Hartz4 ersetze – kann danach nicht im Ernst erzählen „das mache ich alles um des Wohls der Menschen willen“.
Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum viele Politiker anfangen zu trinken, um sich damit irgendwie noch wohlfühlen zu können. Wenn man wirklich mit einem sozialen Anspruch in die Politik gegangen ist, dann aber die Hand dafür hebt, eine gravierende soziale Verschlechterung durchzusetzen, die Hunderttausend oder vielleicht auch Millionen von Menschen betrifft – ich kann mir schon vorstellen, dass man damit nicht so ohne Weiteres klarkommt.

Würden Sie den Opportunisten absprechen, am Allgemeinwohl interessiert zu sein?
Wagenknecht: Ich spreche vielen ab, dass sie sich überhaupt noch erlauben, darüber nachzudenken, was dem Allgemeinwohl dient. Bei Entscheidungen zu Europa, ESM, Fiskalpakt stehlen sich viele aus der Verantwortung, indem sie sagen: „Wenn mein Fraktionsvorsitzender sagt, das ist gut, dann hebe ich dafür die Hand.“ Dadurch leisten sie einer wirklich unsäglichen Politik Vorschub. Wer diese Politik nicht hinterfragt, der macht sich mit schuldig.

Haben Sie viele Freunde unter Politikern?
Wagenknecht: Es geht. Natürlich gibt es im Bereich der Linken eine ganze Reihe, mit denen ich eng zusammenarbeite, bei einigen würde ich das auch Freundschaft nennen. Aber richtige Freundschaft – das sind immer nur relativ wenige Menschen.

Sind Freundschaften über Parteigrenzen hinweg schwieriger?
Wagenknecht: Nein, ich bin auch mit Menschen befreundet, die in wesentlichen Fragen andere politische Positionen vertreten. Schwierig wird es, wenn jemand ein völlig zynischer Neoliberaler ist, der behauptet „jeder ist seines Glückes Schmied und alle Hartz4-Empfänger sind Faulpelze“. Da hätte ich schon Probleme. Aber ansonsten, wenn Menschen einen ganz anderen Zugang und eine andere soziale Prägung haben, kann das richtig interessant sein, sich auszutauschen.

Das heißt, Sie diskutieren auch nach Feierabend über Politik – oder versuchen Sie in Ihrer Freizeit das Politische auszublenden?
Wagenknecht: Beides. Es muss auch einfach Tage und Zeiten geben, wo man nicht dauernd über Politik redet. Wo man einfach mal darüber nachdenkt, was man Schönes kochen kann, zum Beispiel.
Aber ich bin natürlich ein politischer Mensch, wenn ich abends aus dem Bundestag rausgehe, erschöpft sich mein Lebensinhalt nicht darin, wo es in Berlin gute Restaurants gibt oder welche Mode jetzt gerade aktuell ist.

Anfang Juni 2012 hat Gregor Gysi beim Parteitag der Linken in Göttingen u.a. gesagt „In unserer Fraktion im Bundestag herrscht auch Hass“. Woher kommt dieser Hass?
Wagenknecht: „Hass“ habe ich nicht erlebt. Abneigung, Intrigen, Reibereien gibt es – die gibt es aber in jeder Fraktion.

Die anderen Fraktionen interessieren mich jetzt gar nicht.
Wagenknecht: Man kommt in einer Fraktion ja nicht zusammen, weil man sich besonders mag, sondern weil die Fraktionsmitglieder gewählt wurden. Da gibt es immer Konkurrenz und Rangeleien, um Mandate, um Positionen, es gibt eben immer nur einen Sprecher für einen bestimmten Bereich, auch wenn fünf verschiedene Personen meinen, das gut zu können. Dann wiederum stehen bestimmte Politiker mehr in der Öffentlichkeit, andere weniger – all diese Dinge können zu Neid, Missgunst und internen Auseinandersetzungen führen. Leider hat ein beträchtlicher Teil der politischen Auseinandersetzung gar nicht so viel mit realen Meinungsverschiedenheiten zu tun, sondern mehr mit diesen Rangeleien, die mit Karriere und der Besetzung bestimmter Funktionen zu tun.

Aber dieser interne Konkurrenzkampf, Intrigen, die dadurch entstehen – widerspricht das nicht eigentlich Ihren Werten?
Wagenknecht: Ich wünsche mir natürlich eine Gesellschaft, in der es keine Intrige mehr gibt. Die wird es aber wahrscheinlich niemals geben. Der Mensch ist nicht nur gut, er hat natürlich auch diese negativen Seiten und ist sehr stark darauf orientiert, was aus ihm selber wird. Deswegen sind Rangeleien in der Politik auch ganz normal. Zu glauben, dass die Linke aus einer Ansammlung von reinen, edlen Menschen besteht, wäre eine Illusion.
Ich finde allerdings, dass die Linke die Verpflichtung hätte, sich etwas stärker am Riemen zu reißen als andere Parteien und die Ellenbogen eher einzufahren. Das gelingt uns nur partiell.

Eine große Enttäuschung darüber merke ich Ihnen jetzt allerdings nicht an.
Wagenknecht: Man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Das Problem bei der Linken in den letzten Jahren war, dass diese Rangeleien teilweise überhand genommen haben. Besonders problematisch wird es, wenn man ohne Rücksicht auf die Interessen der Partei solche Dinge öffentlich austrägt. Da sind andere Parteien tatsächlich besser als wir, die machen das zu großen Teilen intern, nur manchmal dringt davon etwas an die Presse. Wenn jemand die öffentliche Bühne nutzt, um einem Parteikollegen eins auszuwischen, ist das nicht akzeptabel, dann schadet er damit der gesamten Partei.

Welche Einstellung haben Sie denn zur Entscheidung Oskar Lafontaines im Mai 2012, nur ohne Gegenkandidaten für den Parteivorsitz der Linken zu kandidieren?
Wagenknecht: Oskar wollte nicht Vorsitzender werden, er ist vielmehr immer wieder dafür ins Gespräch gebracht und bekniet worden, dass er nochmal antritt. Es ging nicht darum, den Vorsitz in einer Kampfkandidatur zu erobern. Ich finde es verständlich, dass er sein Angebot zurückgezogen hat, statt sich in parteiinternen Auseinandersetzungen zu verkämpfen.

Welche Eigenschaften sollte man als Politiker mitbringen?
Wagenknecht: Man sollte feste Überzeugungen haben, zu denen man auch steht, man sollte eine Geradlinigkeit haben, und die Methoden, die man benutzt, um seine Ziele zu erreichen, sollten mit den Überzeugungen in einer gewissen Übereinstimmung stehen. Das ist eben die Frage: Wer für eine solidarische Gesellschaft eintritt, sollte auch nicht mit unsolidarischen Mitteln gegen die eigenen Genossen agieren. Ein Politiker muss auch die Fähigkeit haben, Menschen zu erreichen und zu gewinnen.

Welche Eigenschaften sind hinderlich?
Wagenknecht: Die negativen Eigenschaften sind leider nicht immer hinderlich, höchstens dann, wenn es sich irgendwann rächt. Wenn ein Politiker schlangenlinienförmig vorgeht, immer wieder seine eigenen Positionen infrage stellt und nach Umfrageergebnissen ausrichtet, dann wirkt das eine gewisse Zeit, bis irgendwann auffällt, dass er ein gnadenloser Opportunist ist.

Wie wichtig ist Ehrgeiz?
Wagenknecht: Man muss nicht den Ehrgeiz haben, Kanzler zu werden, um in der Politik erfolgreich zu sein. Ich möchte dieses Land verändern, Menschen Mut machen, sich gegen unerträgliche Zustände zu wehren und die Möglichkeit einer Zukunft jenseits des Kapitalismus in der öffentlichen Debatte verankern. Das sind auch ehrgeizige Ziele, aber doch nicht das, was man klassisch unter Ehrgeiz versteht.

Zitiert

Ich habe keinen hundertprozentigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass ein attraktiver Sozialismus funktionieren kann. Es ist meine Grundüberzeugung, aber ich kann es nicht beweisen.

Sahra Wagenknecht

Und Egoismus?
Wagenknecht: Das ist keine Eigenschaft, die ein Politiker unbedingt haben sollte.
Sicher braucht man eine gewisse Robustheit, man muss mit dummen Einwürfen und ähnlichen Dingen klarkommen. Wenn man zu empfindsam ist, wenn man sich keinen entsprechenden Panzer zulegt, kann man in der Politik auch schnell kaputt gehen. Aber Egoismus würde ja bedeuten, dass ich das, was ich mache, hauptsächlich für mich selbst mache. Das ist dann sicher keine gute Politik.

Ich las, dass Sie die Nachtzeit schätzen, auch für die Arbeit. Ist das immer noch so?
Wagenknecht: Wenn ich meinen persönlichen Lebensrhythmus habe, arbeite ich bis spät nachts und schlafe früh lang. Das Problem ist, dass man in der Politik in der Regel nicht lange schlafen kann. Da beneide ich Leute – das ist auch eine wichtige Voraussetzung für den Politikberuf – die mit vier, fünf Stunden Schlaf auskommen. Die sind enorm privilegiert gegenüber Menschen wie mir, die mindestens acht, neun Stunden Schlaf brauchen.

Neun Stunden scheint angesichts des Politikalltags auch eher unrealistisch.
Wagenknecht: Man muss es nicht jeden Tag haben, aber ich versuche schon, zumindest in die Nähe dessen zu kommen. Deswegen werden Sie bei mir früh um 8 Uhr auch keinen Termin bekommen.

Zum Politikalltag gehört auch, dass Parlamentarier sich im Bundestag nicht zuhören, sondern den Saal verlassen, wenn die andere Partei spricht.
Wagenknecht: Auch dafür braucht man den Panzer. Wenn ein Redner der Linken ans Pult geht, leert sich oft genug bei Konservativen und Liberalen das Plenum, zum Teil auch bei der SPD.

Gregor Gysi sagte einmal, er rede im Bundestag nicht für die Abgeordneten, sondern für die Fernsehzuschauer.
Wagenknecht: Ja, man redet für die 300.000 die Phoenix gucken oder die, die sich die Rede später im Internet ansehen. Man will seine Position im Bundestag kundtun, aber man weiß auch genau, dass man die meisten Kollegen, die dort sitzen, nicht überzeugt. Vielleicht gibt es den ein oder anderen, der sagt: ‚OK, das war eine gute Rede, auch wenn ich die Meinung nicht teile.‘ Aber den größten Teil wird man nicht erreichen, man wird mit einer Rede im Parlament leider auch nicht deren Stimmverhalten beeinflussen.

Aber kollektives Rausgehen oder Sudoku-Spielen während einer Sitzung sind eigentlich doch Unsitten, oder?
Wagenknecht: Na klar ist das eine Unsitte. Es ist eine sichtbar gemachte Arroganz und Überheblichkeit, auch eine Ignoranz gegenüber dem parlamentarischen System. Ich sage ja nicht, dass auch mal ein Abgeordneter einen Termin haben kann. Aber wenn sich die Abgeordneten in einer Debatte je nach Redner reihenweise nach draußen begeben, ist das die zur Schau getragene Überzeugung: „Dieser blöde Parlamentarismus kotzt uns an, es wäre uns lieber, wenn die Opposition gar nicht reden würde, wir stimmen sowieso alles durch.“ Ich finde das bedenklich.

Und diese Ignoranz, die Sie beschreiben, versuchen Sie selbst nicht an den Tag zu legen…
Wagenknecht: Sie werden bei der Linken kein massenhaftes Rausgehen erleben, wenn Angela Merkel ans Redner-Pult tritt. Dass in der zweiten Hälfte einer Debatte in der Regel die Reihen etwas gelichteter sind als in der ersten Hälfte, hat damit zu tun, dass man auch andere Termine hat. Aber demonstrativ rauszugehen wenn ein Politiker einer anderen Fraktion ans Mikro tritt – das steht keiner Partei gut zu Gesicht.

Mich würde als Nächstes interessieren, welchen Eindruck Sie heute von der Arbeit der Medien in Deutschland haben. Sie beklagten kürzlich, die Medien würden ihrem Aufklärungsauftrag nicht gerecht werden, Anfang der 90er bezeichneten Sie das Fernsehen sogar mal als einen „großangelegten Versuch, Menschen zum Schweigen, zur Aufgabe des Denkens zu bewegen.“
Wagenknecht: Das sehe ich nach wie vor so, es gibt sehr viele Einlullfilmchen und so viel Plattes, Oberflächliches im Fernsehen. Bei den privaten Medien steckt da auch ein eindeutiges Interesse der Eigentümer dahinter, weil sie gar nicht wollen, dass sich gesellschaftlich etwas ändert.
Die Öffentlich-Rechtlichen haben immer mal wieder sehr respektable und gute Beiträge, wo sie auch Aufklärung leisten, die kommen aber meistens spät nachts. Die normale Berichterstattung über den Politikbetrieb ist dagegen sehr einseitig. Dazu muss man sich nur angucken, wie oft die Linke ausgeblendet wird, auch bei Dingen, wo wir als Einzige opponiert haben.

Warum ist das so?
Wagenknecht: Inzwischen ist ja bekannt, dass Parteien wie die CSU auch nicht vor direkter Einflussnahme bei den Medien zurückschrecken. Und bei der Ausgrenzung der Linken gibt es keine Differenz zwischen CDU und SPD.

Sie werden von den Redaktionen nicht gewollt?
Wagenknecht: Ja, ganz extrem zum Beispiel in NRW. Die WAZ-Gruppe ist aufs engste mit der SPD verflochten, und die SPD hat natürlich kein Interesse daran, dass die Linke in NRW in der Berichterstattung größeren Raum bekommt. Deshalb bekommt sie ihn dann auch nicht. Bei Springer dürfen wir noch nicht mal Anzeigen schalten, in der „Bild“-Zeitung wird die Linke nicht gedruckt. Ab und an bringen die mal ein Interview, aber viel seltener als bei anderen Parteien. Auch im Politik- und Wirtschaftsteil der FAZ kommen wir nur äußerst selten vor, eine Ausnahme ist das Feuilleton.

Es gab offenbar eine Untersuchung, die ergeben hat, dass in den Nachrichten der öffentlich-rechtlichen die Grünen 15 mal häufiger vorkommen als die Linke.
Wagenknecht: Ja, wir haben uns über mehrere Monate angeguckt, wie der Proporz der Parteien in der „Tagesschau“ ist, gemessen an ihrem Stimmenanteil im Bundestag. Die Linke war dabei die am Partei, über die am wenigsten berichtet wurde, der Anteil lag weit unter unserem Stimmenanteil. Weit höher als ihrem Stimmenanteil entsprechend wurde über die FDP berichtet, die CDU wurde auch etwas übergewichtet, und bei der SPD entsprach die Berichterstattung in etwa ihrem Stimmenanteil.

Wen machen Sie dafür verantwortlich?
Wagenknecht: Die Chefs von ARD und ZDF werden ja im Wesentlichen in Abstimmung mit den großen Parteien benannt. Und die stellen das offenbar bis hin zu ihren Redakteuren durch. Die haben nicht das Gefühl, dass sie der Linken gefallen müssen, sondern dass sie der CDU und der SPD gefallen müssen.

Das heißt, dort gibt es eine politische Einflussnahme auf die Sender?
Wagenknecht: Ja, auf jeden Fall.

Der TV-Journalist Peter Hahne sagte uns in einem Interview: „Der Konkurrenzdruck unter den Medien hat das Tempo in der Politik deutlich erhöht.“ Würden Sie ihm zustimmen?
Wagenknecht: Naja, es existiert natürlich ein unglaublicher Druck, ständig mit neuen Presseerklärungen oder Ähnlichem in den Medien präsent zu sein. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass über einen Vorschlag, der völlig provokativ, vielleicht sogar falsch ist, eher berichtet wird, als über einen Vorschlag, der unspektakulär daherkommt, aber tatsächlich Substanz hat. Und es gibt den Anreiz, auf den sich Politiker auch immer wieder einlassen: Wenn man jemanden aus der eigenen Partei kritisiert, kommt man viel leichter in die Medien, als wenn man eine inhaltliche Position vertritt. Wenn wir Niedriglöhne kritisieren, heißt es in den Redaktionen „das haben wir schon 100 mal gehabt“. Wenn aber jemand aus unseren Reihen sagen würde, „Gregor Gysi hat eine schlechte Rede gehalten“, würde er überall zitiert. Immer wenn man die eigenen Leute anschmiert, hat man sofort Medienresonanz. Nur hilft das natürlich niemandem.

Aber nochmal in Bezug auf das eben erwähnte Zitat: Werden langfristige politische Entscheidungen durch das hohe Tempo der Medien schwieriger?
Wagenknecht: Naja, die Regierung kann sich nicht darauf hinausreden, dass das Medientempo ihr unmöglich macht, eine langfristige Politik zu betreiben. Ich habe eher den Verdacht, dass ihr ein langfristiges Konzept fehlt. Deshalb hangeln die sich von Schritt zu Schritt, um sich irgendwie Zeit zu kaufen.

Sie sind inzwischen recht häufig zu Gast in Talkshows. Dort und in Ihrem Buch Freiheit statt Kapitalismus“ verwenden Sie Worte wie „Zockerei“, „Zockerbanken“, „Private-Equity-Haie“, „Bankster“, man liest Sätze wie „Ackermann killt die IKB“, der Finanzmarkt ist ein „Spielcasino“, Banken sind „gigantische private Wettbuden“, die FDP ist eine „durchgeknallte Finanzmarktpartei“, und CDU, FDP, SPD und Grüne bilden ein „neoliberales Parteienkartell“. Warum diese Ausdrucksweise?
Wagenknecht: Weil sie die Realität beschreibt.

Aber sachlich ist das nicht.
Wagenknecht: Ich finde das nicht unsachlich. Es ist auch nicht übertrieben sondern es entspricht leider den Gegebenheiten. Und wenn die Gegebenheiten skandalös sind, sollte man auch einen Wortschatz benutzen, der das auf den Punkt bringt. Dieses langweilige Politikersprech können die meisten Leute doch nicht mehr hören, wenn die schlimmste soziale Ungerechtigkeit als „Gerechtigkeitslücke“ schöngeredet wird – so etwas finde ich grässlich. Drastische Verhältnisse verlangen auch drastische Worte.

Und wenn man Ihnen nun aber Populismus vorwirft?
Wagenknecht: Das hat nichts mit Populismus zu tun, es ist mehr die Frage, einer zupackenden, prägnanten, eingängigen Sprachbildung.

Mich erinnert es zum Teil an „Bild“-Schlagzeilen. Gehorchen Sie mit so einer Wortwahl nicht auch Gesetzen der Medien?
Wagenknecht: Ich versuche Sätze zu sagen, die die Leute sich merken, wo sie auch verstehen, was passiert. Man kann natürlich auch ganz technisch von CDS und ABS sprechen, von over the counter-Handel und Leveraging – doch das versteht kein Mensch. Für mich passt der Begriff „Zockerei“, der beschreibt genau, was die dort treiben.

Noch ein Themenwechsel: In den 90er Jahren haben Sie mal in einem Interview gesagt, der Herbst 1989 war „die schlimmste Zeit, die ich bisher erlebt habe“. Wie ist Ihre heutige Perspektive auf die Wiedervereinigung?
Wagenknecht: Ich war damals in der Tat sehr unglücklich. Mein Leben war durch das Aufwachsen in der DDR geprägt, ich habe mir gewünscht, dass die DDR sich reformiert und verändert. Statt dessen ist sie ziemlich unrühmlich in sich zusammengebrochen. Für mich verband sich damit auch die Angst, dass linke Vorschläge für eine sehr lange Zeit, vielleicht sogar auf immer diskreditiert sind und nie wieder positive Resonanz gewinnen. Als Marxistin und Sozialistin hatte ich damals das Gefühl: Das zieht mir den Boden unter den Füßen weg.

Denken Sie heute manchmal: Es ist doch ganz gut, dass es so gekommen ist?
Wagenknecht: Ich möchte die DDR nicht wiederhaben. Ich weiß auch gar nicht, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn sie weiter existiert hätte, ob ich jemals hätte studieren können, geschweige denn welche berufliche Perspektive ich gehabt hätte. Ich will auch keine Gesellschaft, die so strukturiert ist wie die DDR. Das ist allerdings eine Sichtweise, die ich mir nach Studien und einer gewissen Lebenserfahrung angeeignet habe, damals habe ich das nicht so gesehen.

Wie ist Ihr Verhältnis zum 03. Oktober bzw. zum 9. November – feiern Sie da mit?
Wagenknecht: Was soll ich feiern? Für mich ist die DDR Geschichte, das ist eine Kindheitserinnerung, mein Leben habe ich in der Bundesrepublik verbracht. Meine große Liebe hätte ich nicht kennen gelernt, wenn die DDR nicht verschwunden wäre. Insoweit gehöre ich sicherlich zu denen, die von der Wende profitiert haben.

Welche Präsenz hat die DDR in Ihrem heutigen Leben?
Wagenknecht: Ich trinke gerne Rotkäppchen-Sekt (lacht), aber noch lieber Saarweine.
Manchmal gibt es noch Begriffe, die ich von damals gewohnt bin. Wobei ich mir mit viel Mühe – weil es sonst permanent Missverständnisse gab – angewöhnt habe, statt „dreiviertel Vier“ „viertel vor Vier“ zu sagen.

Welchen Kinofilm zur DDR-Thematik haben Sie gesehen?
Wagenknecht: „Good Bye, Lenin“, den fand ich auch gut, weil er sehr feinfühlig mit der Problematik umgegangen ist, der war nicht denunzierend oder platt. Ich habe auch „Sonnenallee“ gesehen, das fand ich grässlich platt und plakativ.

Go Trabi Go“?
Wagenknecht: Nein, kenne ich gar nicht. Ist der jetzt aktuell?

Nein, aktuell wäre zum Beispiel „Hinterm Horizont“.
Wagenknecht: Das sagt mir nichts.

Ein Musical über den Mauerfall von Udo Lindenberg, das seit knapp zwei Jahren am Potsdamer Platz aufgeführt wird.
Wagenknecht: Ich gebe zu, dass ich lieber ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt gehe, um mir Bach oder Beethoven anzuhören.

Interessiert Sie das denn gar nicht, der Umgang mit der DDR-Thematik in der Populärkultur?
Wagenknecht: Die Wiedervereinigungsthematik interessiert mich, ehrlich gesagt, nicht besonders, das ist halt Geschichte. Anfang der 90er war es das vielleicht ein wichtiges Thema, aber heute liegt das 22 Jahre zurück.

Waren Sie schon mal in der Gedenkstätte Hohenschönhausen?
Wagenknecht: Nein. Da würde ich auch nicht hingehen. Dass die Staatssicherheit inakzeptabel und dieser Knast schrecklich waren, das weiss ich auch so.

Vermeiden Sie es auch um sich zu schützen?
Wagenknecht: Wovor? Ich würde jetzt auch nicht – oder meine Mutter, die es ja eher betrifft – nachforschen, ob Bekannte über einen irgendetwas berichtet haben, ob man eine Akte hat. Ich will nicht wissen, ob uns andere ausspioniert haben. Das ist einfach Geschichte und lange her. Dass ich aktuell vom Verfassungsschutz überwacht werde, bewegt mich da schon eher.

Zumindest im Fernsehen kommen Sie wahrscheinlich nicht vorbei an der Wiedervereinigungsthematik, wenn in Archivbildern die Stunden des Mauerfalls gezeigt werden. Sind Sie gerührt, wenn Sie solche Bilder sehen?
Wagenknecht: Es ist eher eine Erschütterung. Die Leute hatten damals ja eine unglaubliche Hoffnung, für sie war es der Aufbruch in die Freiheit, in die heile Welt, wo man sich plötzlich alles kaufen kann. Und was kam? Für viele ehemalige DDR-Bürger kam die Arbeitslosigkeit, Hartz4 und Altersarmut. Die Hoffnungen haben sich in vieler Hinsicht nicht erfüllt.

Aber verstehe ich Sie richtig, wenn Sie Bilder vom Mauerfall sehen, erschüttert Sie das?
Wagenknecht: Ja, weil ich mich frage: Wie ist es diesen Bürgern ergangen nachdem sie mit hingebungsvoller Freude und Begeisterung dieses Ereignis gefeiert haben?
Natürlich habe ich mich zu DDR-Zeiten auch geärgert, dass ich nicht nach Paris oder Rom reisen konnte, insofern war es ein befreiendes Gefühl, zu wissen, man kann jetzt überall hin. Trotzdem frage ich mich, wie es diesen Menschen, die man auf den Bildern sieht, danach ergangen ist, ob sie fünf Jahre später auch noch gefeiert haben. Es gab sicherlich nicht wenige, die sich Wohlstand und ein gutes Leben haben aufbauen können. Es gab aber auch viele, für die das nicht gilt.

Nun leben wir heute im Kapitalismus. Ist die Frage Sozialismus oder Kapitalismus eigentlich auch eine Frage der Ausprägung des Egoismus in der Bevölkerung? Leben wir vielleicht in einer kapitalistischen Gesellschaft weil das unserem Egoismus am nächsten kommt?
Wagenknecht: Nein, ich glaube, wenn die Mehrheit der Menschen wirklich egoistisch wäre, dann müsste sie die Verhältnisse sehr schnell verändern – sie haben ja nichts davon. Die Verhältnisse sind für eine kleine reiche Minderheit extrem vorteilhaft, für die Mehrheit bringen sie sich verschlechternde Lebensverhältnisse.

Aber nur eine Minderheit wehrt sich gegen den Kapitalismus.
Wagenknecht: Das liegt zum einen daran, dass die Alternative nicht auf der Hand liegt. Viele befürchten eine Entwicklung zum Schlechteren und akzeptieren deswegen die herrschenden Verhältnisse. Zum anderen denken viele, dass sie nichts ausrichten können, fühlen sich ohnmächtig und machtlos.
Ein gewisser Grad an Selbstbezogenheit – ich sage jetzt ausdrücklich nicht Egoismus – und dass Menschen nicht nur altruistisch sind, sondern erst mal sich und ihre Familie sehen, das ist ja ganz normal, dem muss auch eine sozialistische Wirtschaft gerecht werden.

Der Kapitalismus wird häufig als Motor für Entwicklung gesehen, für die wirtschaftliche, aber auch die gesellschaftliche.
Wagenknecht: Das war er lange Zeit. Aber was wird heute honoriert? Kreativität wird vor allem dort honoriert, wo sie gesellschaftlich völlig nutzlos ist, zum Beispiel im Finanzbereich, wo man irgendwelche abstrusen Papiere kreiert und dadurch extrem reich wird. Dort, wo Menschen Sinnvolles leisten, werden sie teilweise immer schlechter bezahlt. Gerade im Bereich der Pflege und der Krankenhäuser: Das sind für die Gesellschaft tausendmal nützlichere Arbeiten als vieles, was mit extremen Einkommen im Finanzsektor unterwegs ist. Deswegen glaube ich, dass der Kapitalismus, wie er heute strukturiert ist, eine Gesellschaftsform ist, die Produktivität und Kreativität nicht fördert, sondern in vielerlei Hinsicht kaputt macht. Gehen Sie mal mit einer guten Idee zu einer Bank und beantragen Sie einen Kredit – da haben Sie so gut wir gar keine Chance.

Wenn der Sozialismus da ist, woran merke ich das im Alltag?
Wagenknecht: Man merkt es auf jeden Fall daran, dass man weniger Stress und mehr Zeit hat, auch mehr Sicherheit in seiner Lebensplanung. Man hat ein gutes Einkommen, kann sich vieles leisten, aber man hat nicht diesen permanenten Druck, wie er heute mit den meisten Arbeitsverhältnissen verbunden ist, auch nicht die ständige Angst, ob man im nächsten Monat von seinem Einkommen noch die Miete oder die Heizkosten bezahlen kann.

Sie sind links, doch in welchen Dingen sind auch Sie konservativ?
Wagenknecht: Wahrscheinlich in meiner Kleidung. Vielleicht auch in meinem Musik- und Literaturgeschmack, zumindest ist mir die traditionelle, klassische Literatur und auch die klassische Musik viel näher als manches Moderne.

Also keine Rock/Pop-Musik?
Wagenknecht: Ich höre zur Entspannung oder im Auto auch moderne Musik. Aber wenn ich zuhause was richtig Schönes hören will, dann eher Klassik oder französische Chansons.

Gibt es eine Figur in der Literatur, mit der Sie sich identifizieren?
Wagenknecht: Identifizieren eigentlich nicht. Aber es gibt Figuren, die mich beeindruckt haben. Adrian Leverkühn aus Thomas Manns Roman Dr. Faustus ist zum Beispiel nicht jemand, mit dem ich mich identifiziere, weil ich so wie er natürlich nicht enden möchte. Aber es ist jemand, der mich erschreckt und geprägt hat als Figur, ich bin auch deswegen, weil ich sein Schicksal nicht teilen wollte, damals politisch aktiv geworden.

In Brasilien gibt es seit Kurzem ein Programm für Strafgefangene, die durch Lektüre von Büchern ihre Haft verkürzen können, pro Buch werden ihnen vier Tage Haft erlassen. Wie finden Sie die Idee?
Wagenknecht: Sehr interessant, es spricht schon etwas dafür, wenn man Resozialisierung ernst meint. Literatur ist natürlich ein Teil dessen, was Menschen prägt, wo sie sich vielleicht für andere Werte begeistern können oder zumindest einen Zugang dazu finden.

Wäre so eine Regelung in Deutschland denkbar?
Wagenknecht: Ja, nur müsste man mit der Literatur eigentlich viel früher, in der Schule ansetzen, im Gefängnis ist es schon ziemlich spät. Junge Menschen, die auf eine Haupt- oder Realschule gehen, lesen ja kaum noch. Selbst im Gymnasium wird das Lesen sehr an den Rand gedrängt. Vielleicht war ich in meiner Generation auch schon eine Ausnahme, ich bin mit Büchern aufgewachsen und habe meine ganze Kindheit und Jugend gelesen. Wer macht das heute noch?

Letzte Frage: Geht am 21. Dezember die Welt unter?
Wagenknecht: (lacht) Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst, oder?

Nein, aber wir sprachen ja zu Beginn über den Glauben – und es gibt natürlich auch den Aberglauben.
Wagenknecht: Sie meinen das mit dem Maya-Kalender… Nun, es gibt immer wieder ein paar Verrückte… Ich kriege zum Beispiel E-Mails von Glaubensgruppen, die mich bekehren wollen, damit ich dann wenigstens den Weltuntergang gut überstehe.

Ernsthaft?
Wagenknecht: Ja, ich bekomme alles mögliche, auch Mails von Ufo-Anhängern, die mir erzählen, dass das außerirdische Leben gerade wieder im Landeanflug ist und ich dieses wichtige Thema bisher sträflich vernachlässigt hätte.

Schreiben Sie zurück?
Wagenknecht: Je nachdem. Wenn es wirklich offen verrückt ist kriegen sie keine Antwort. Wenn es halbwegs gutwillig scheint, dann schon.

Sie antworten dann, dass es keine Ufos gibt?
Wagenknecht: Naja, bei den richtigen Ufo-Anhängern hilft natürlich keine Diskussion. Aber wenn jemand in seiner Mail zum Beispiel drei sinnvolle Punkte zur Reichensteuer hat und außerdem noch etwas von Ufos schreibt, dann schreibe ich ihm etwas zur Reichensteuer zurück und ignoriere höflich die Ufos.

Kommentar schreiben

* Erforderliche Angaben. Emailadresse wird nicht veröffentlicht.