Nicolas Stemann

Wir bilden die Peilungslosigkeit der Welt da draußen ab.

Nicolas Stemann über improvisiertes Bühnengeschehen, irritierte Zuschauer, "Dirigententheater" und gescheiterte Verhandlungen mit dem Berliner Gorki-Theater

Nicolas Stemann

© David Baltzer

Nicolas Stemann, erinnern Sie sich noch an den Abend der vorletzten Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen?
Stemann: Von denen gibt es ja so viele. Ich weiß nicht, was ich da gemacht habe.

Die Wahl fand am 9. Mai 2010 statt. Sie haben im Schauspiel Köln Elfriede Jelineks Bankenkrisenkommentar "Die Kontrakte des Kaufmanns" aufgeführt. Es wurden live die neuesten Hochrechnungen auf die Bühne projiziert, Schauspieler trugen Masken des damaligen Ministerpräsidenten.
Stemann: Wer war das damals eigentlich? Ich weiß es gerade nicht mehr. (lacht) Letztendlich hat man doch den Eindruck: sobald über Politikerpersönlichkeiten und über das, was da auf den Wahlplakaten steht, geredet wird, verfehlt man das Eigentliche.

In "Der demografische Faktor" stellen Sie in einem improvisierten Teil zunächst die Politik einfach auf die Bühne. Sie bestaunen Statistiken und verwandeln sie in Schlagermusik. Das erinnert an eine Talkshow, nur dass die Ratlosigkeit der Protagonisten von Anfang an mit thematisiert wird.
Stemann: Wir stellen eine Menge Oberflächenphänomene gegeneinander und umkreisen damit das Problem, ohne es direkt anzusprechen. Das passiert in den Medien in der Tat auch, aber wir versehen es mit einer anderen Energie. Bei "Kontrakte des Kaufmanns" war das noch eher hysterisch und rituell. Jetzt geht es darum, das auch mal wieder runterzukochen, den Stecker zu ziehen. "Der demografische Faktor" wird so zum Wechselbad aus Spannungslosigkeit und Überspanntheit. Wir treten erst als improvisierende Band auf, dann gibt es eine Art Daily Soap, die entwickelt sich zum klassischen Theater. Wir stellen da etwas auf die Bühne, das letztlich genauso uneigentlich ist, wie das, was wir von den politischen Bühnen zu hören bekommen.

Gleichzeitig mischen Sie konkrete biografische Elemente in Ihren Abend. Sie berichten zum Beispiel davon, dass Sie und Ihre Mitmusiker Sebastian Vogel und Thomas Kürstner während der Arbeit an dem "Demografischen Faktor" insgesamt siebenfache Väter geworden sind.
Stemann: Wir erzählen Sachen die stimmen, andere stimmen nicht. Dass ich vor zwei Wochen mein erstes Kind bekommen habe, stimmt tatsächlich. Was ich im Einzelnen davon erzähle, hat allerdings nur bedingt mit der Realität zu tun. Von meiner Rolle als Vater ist dieser Abend aber sicherlich beeinflusst.

Im zweiten Teil von "Der demografische Faktor" legt sich ein Seniorenchor erschöpft auf die Bühne. Ein kleines Mädchen tritt in seine Mitte. "Macht euch keine Sorgen, ich kümmere mich um Euch" sagt sie zunächst, um dann festzustellen: "Das schaffe ich ja gar nicht." Dieses Mädchen könnte Ihre Tochter sein.
Stemann: So konkret habe ich das noch gar nicht gesehen… Aber sicher beschäftigte mich die Frage, was aus meiner Tochter werden würde. Zunächst war da aber eine ganz andere Sorge, nämlich: Was wird aus mir, wenn ich Vater werde? Was ist dann noch möglich? Was heißt das eigentlich? Kann ich das überhaupt? Solche Dinge, die einen persönlich angehen, mischen sich permanent mit medialen Oberflächenphänomenen. Als solche Mischungen nehmen wir Probleme wahr, ob sie nun politisch, gesellschaftlich, oder persönlich sind. Das landet dann in einer Unkonzentriertheit, die wir in der Form des "Demografischen Faktors" nachvollziehen. Deswegen entsteht das Stück jeden Abend neu. So neu, dass die Darsteller zum Teil auch mit Texten auf die Bühne kommen, weil sie zum Lernen gar keine Zeit gehabt hätten.

Wie reagieren die Zuschauer darauf? Bewusste Unkonzentriertheit und offensichtlich Unfertiges ist ja nicht unbedingt das, was man im Theater erwartet.
Stemann: Manchmal irritiert, zunehmend erfreut – schließlich ist die Verwirrung, die wir stiften, ja auch unterhaltsam. Wir versuchen, eindeutige Sinnzuschreibungen zu vermeiden und damit offen zu bleiben für eine andere Form des Denkens. Das findet man in der Bildenden Kunst recht oft, im Theater gestattet man sich das eher selten, weil man immer linear auf eine Szene am Schluss hin arbeitet, auf eine Lösung. Wir gehen eher einen ständigen Schlingerkurs, in den Texten, im Setzen von Pointen, man weiß eigentlich nie: Soll das jetzt lustig sein oder nicht, sind die da oben total verzweifelt oder total selbstgefällig?

Irritation entsteht möglicherweise auch dadurch, dass der Zuschauer im Theater eigentlich etwas Perfektes erwartet, dann erlebt er aber auf der Bühne eher eine Probensituation, die ihn wiederum an sein alltägliches Leben erinnert.
Stemann: Das trifft es eigentlich ganz gut. Wir bilden eigentlich nur die Peilungslosigkeit der Welt da draußen ab. Dann kann man natürlich sagen: Gebt euch doch mal ein bisschen mehr Mühe, dann könntet ihr auch Antworten geben. Aber darin besteht ja gerade das Peilungslose: alle tun so, als könnten sie Antworten geben. Dabei ist gerade das Verweigern von Antworten gar nicht so leicht. (lacht)

"Der demografische Faktor" gilt nicht gerade als Publikums-Hit.
Stemann: Das war zu vermuten und das müssen wir in Kauf nehmen. Natürlich kommen mehr Leute, wenn "Faust" drauf steht. Es ist aber auch kein totaler Flop – außer beim Feuilleton, das damit bislang noch nicht so viel anfangen konnte. Ich bin mir aber sicher, dass es möglich ist, diese Form weiterzuführen. Das werde ich auch auf jeden Fall tun. Ich bin sehr davon überzeugt, dass es ein richtiger Weg ist, auch wenn sich das noch nicht jedem erschließt.

Wahrscheinlich kommt diese andere Art des Theaters erstmal bei denen gut an, die sonst gar nicht ins Theater gehen.
Stemann: Das mag sein. Wenn man so einen Theaterabend auch eher als Form des Konzertes ernst nimmt, mehr als Mischung aus Kleinkunst und Rock’n’Roll und nicht so sehr durch Theaterkonventionen oder das Feuilleton gerahmt sieht, dann sehe ich darin eine große Chance. Man merkt auch, dass wir mittlerweile dabei sind, uns dafür ein eigenes Publikum zu erspielen.

Zitiert

Wir stellen da etwas auf die Bühne, das letztlich genauso uneigentlich ist, wie das, was wir von den politischen Bühnen zu hören bekommen.

Nicolas Stemann

Ist dann so ein Feuilletonerfolg wie "Faust I+II", Ihr siebenstündiger Goethe-Marathon, mit dem Sie zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden, wie ein Flashback aus vergangenen Zeiten? Können Sie den noch selbst genießen?
Stemann: Ja, das kann ich. Das hängt wieder mit dem Gegenstand zusammen. Einerseits gibt es die sehr puristische Strenge im ersten Teil vom Faust. Diese klassische Art des Sprechtheaters mache ich für mich dadurch erträglich, dass ich sie erstmal übererfülle. Der Text wird erstmal nicht von mehreren Schauspielern gespielt, sondern ein Schauspieler, der allein in einem Raum steht, stellt den Text quasi performanceartig her. Im zweiten Teil, der dann ja auch textlich bei Goethe eher so wegfliegt, habe ich formal die verschiedensten Möglichkeiten zu experimentieren, auch Theatermittel weiterzuführen, die ich in den letzten Jahren schon mehrfach benutzt habe.

Sie lassen auch noch einen Weggefährten Goethes als Ihr Alter Ego auftreten, der halb selbstironisch, halb sentimental an Ihre frühen Jahre als Regisseur des "Postdramatischen Theaters" zurückdenkt.
Stemann: Der Mensch, der sich da erinnert, nennt sich "Josef Goethe" und wurde zum "Postdramatischen Geheimrat" ernannt – das bin nicht ich! Ich habe dem Schauspieler Philipp Hochmair, mit dem ich ja schon seit ich Theater mache immer wieder zusammen gearbeitet habe, gesagt, er soll sich an unsere frühe, und auch die jetzige Zeit erinnern – aus der Perspektive eines alten, bräsigen Mannes in der Zukunft. Mit all der Verklärtheit und Eitelkeit, die wir immer so affig fanden an älteren Kollegen. Es ist eine Schreckensvision: vielleicht ist das alles, was bleibt: ein hilfloses Erinnern beim Wein. Aber es stellt sich ja wirklich die Frage, wie es nach so einer Inszenierung wie dem "Faust", der so viel von dem, was ich in den letzten Jahren gemacht habe, noch einmal zusammen- und weiterführt und auf den Punkt bringt, weitergehen soll. Da war ein Projekt wie "Der demografische Faktor", eine gute Gelegenheit, weiter in Bewegung zu bleiben anstatt gleich wieder mit dem nächsten Klassiker oder meinetwegen auch einem neuen Jelinek-Stück zu kommen.

Vor zwei Jahren haben Sie mit Jacques Offenbachs "La Périchole" an der Komischen Oper Berlin zum ersten Mal an einem Opernhaus inszeniert. Wollen Sie das fortsetzen?
Stemann: Es sind ein paar Projekte in dieser Richtung für die nächsten Jahre in Aussicht. Offenbach hat mir großen Spaß gemacht, weil einem die Musik so viel erzählt. Die Inszenierung hat in der Opernwelt ja auch durchaus einigen Respekt und Aufmerksamkeit geerntet. Leider wurden ihr aber nicht gerade die Türen eingerannt. Es gibt wahrscheinlich wenige Leute wie mich, die sowohl eine Vorliebe für die Operette, als auch für meine Ästhetik haben.

Vielleicht haben Sie ja auch einige Operetten-Fans verschreckt, in dem Sie Teile aus "Tristan und Isolde" in den Offenbach eingebaut haben.
Stemann: Ja, das wurde von einigen erstaunlicherweise als ganz böser Tabubruch angesehen. Dabei machen wir so was am Sprechtheater ja dauernd. Übrigens kam die Idee dazu gar nicht von mir. "Regietheater" wird immer gestöhnt. Stimmt gar nicht. Das war "Dirigententheater". Mein kongenialer musikalischer Partner Markus Poschner hat damals gesagt: Lass uns doch mal Wagner dazu tun. Diese Zusammenarbeit war ein großer Genuss, ebenso die Arbeit mit den Sängern. Die stellen ganz andere Fragen als Schauspieler. Ein Schauspieler will sich existentiell spüren, sucht in der Arbeit immer den Konflikt, einen Sinn, einen Widerstand, der ihm weht tut, durch den er wieder schlechte Laune bekommen kann. Ein Sänger sucht nach dem Klang und dem Ton, nach der Energie der guten Laune. Das hat mir als Regisseur sehr viel Spaß gebracht.

Was unterscheidet den Musiktheaterregisseur vom Theaterregisseur?
Stemann: Die festgelegte Partitur entbindet mich von den meisten meiner Aufgaben, die ich beim Sprechtheater habe – Timing zum Beispiel. Im Sprechtheater schaffe ich als Regisseur ja gewissermaßen die Partitur zum bestehenden Text. Das fällt in der Oper weg. Das ist also erst mal viel einfacher. Aber natürlich auch unfreier. Und wirklich zu einem interessanten Abend zu kommen, ist deshalb gar nicht so leicht. Bei Offenbach konnte ich ja wie gesagt bedingt in die Partitur eingreifen und habe das auch getan. Das Inszenieren einer Mozart-Oper aber bedeutet zum Beispiel, dass man mit Leuten arbeitet, die das in den letzten 15 Jahren schon auf allen großen Bühnen gemacht haben. Was soll ich denn da noch machen? Das ist nicht so leicht aufzubrechen, auch weil Mozart ganz anders durchkomponiert ist als Offenbach. Es ist musikalisch großartig, aber theatralisch natürlich eine Form aus einer Zeit, als man noch mit Kutschen durch die Gegend gefahren ist. Damals war die Wahrnehmung der Menschen eine ganz andere. Nun kommen die Regisseure und versuchen alles mit dem Holzhammer zu bearbeiten, die Sänger in Naziuniformen zu stecken und so weiter – aber sie kommen an die Energie der Musik gar nicht ran. Das ist ein Problem, das im Musiktheater noch sehr ungelöst ist. Man soll ja auch zurecht nicht so rumsauen in diesen großartigen Partituren. Mit einer Partitur arbeite ich sehr genau.

Sie nehmen sich mit der Musik weniger Freiheiten, als mit Texten?
Stemann: Auch mit Texten arbeite ich genau, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht immer so aussieht. Ich gehe mit dem Text zwar in Konflikt, aber dabei gehe ich eben schon sehr genau mit ihm um, ob das nun Jelinek ist, oder Faust. Es ist nicht wurscht, welcher Text das ist. So ist das auch mit einer Oper. Es ist nicht egal, wie man mit der Musik arbeitet, aber trotzdem ist es ein Problem, zum Beispiel eine Mozart-Oper heute so lustig hinzubekommen, wie sie vor 200 Jahren gedacht war. Das war ja damals richtig cooles Unterhaltungstheater. Heute, im Zeitalter der Fernbedienungen und Sitcoms, ist man natürlich ein anderes Tempo gewöhnt.

Eine ganz besondere Herausforderung dürfte für Sie in den letzten Wochen auch die Frage gewesen sein, ob Sie ab 2013 der Nachfolger des scheidenden Intendanten Armin Petras am Maxim Gorki Theater in Berlin werden.
Stemann: Die Gespräche, die eigentlich ganz positiv verliefen, sind leider gescheitert. Ich habe mir die Finanzierung angeguckt und gemerkt, dass ich meine Vorstellungen nur umsetzen könnte, wenn das Theater ein bisschen großzügiger ausgestattet wäre.

Die Nachricht befeuerte Fantasien. In der Berliner Zeitung freute sich der Kritiker Dirk Pilz bereits über einen kommenden Innovationsschub für die Theaterlandschaft. Er sah Sie als Vorsteher eines "offenen Theaterlabors".
Stemann: Wer weiß, vielleicht bietet sich ja irgendwann woanders eine Gelegenheit, vielleicht auch in ganz anderer Form. Meine Sehnsucht ist ja ohnehin eher ein eigenes Ensemble nach Vorbild der flämischen Gruppen. Das beißt sich natürlich immer mit dem deutschen System der subventionierten Stadttheater und deren jeweils eigenen Ensembles. Davon abgesehen bin ich aber auch gar nicht unzufrieden mit meinem Leben als freier Regisseur. Die Unabhängigkeit hat ja auch Vorteile: Sich selber auf die Bühne zu stellen und zu sagen: Ich mache jetzt einen Solo-Liederabend ist schwieriger, wenn man gleichzeitig noch den Beruf des Intendanten innehat.

Eine letzte Frage: Da die Grenzüberschreitung eines Mediums wahrscheinlich endlich sind, würden Sie das Medium gegebenenfalls auch wechseln? Was würden Sie zum Beispiel tun, wenn man Ihnen eines Tages die Moderation von "Wetten Dass?!" anbieten würde? Nicht zuletzt als leidenschaftlicher Moderator Ihrer eigenen Inszenierungen erscheinen Sie uns da gar nicht so ungeeignet.
Das würde ich natürlich sofort annehmen. Der Nachteil ist, dass man das wohl als Fulltime-Job betreiben muss. Das interessiert mich dann doch nicht. Ich würde nie im Leben gerne ausschließlich Fernsehmoderator sein. Da ist das, was ich im Moment mache, doch unendlich viel freier, interessanter und vielseitiger.

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