Alain de Botton

Wir Atheisten haben noch viel zu lernen

Philosoph Alain de Botton über Religion als Ideengeber und Psychotherapie, die Trennung von Staat und Kirche, Nationalstolz und die Musik Johann Sebastian Bachs.

Alain de Botton

© Vincent Starr

Alain de Botton, in diesem Frühjahr gab es eine kurze Zeit, in der das überwiegend katholische Italien weder einen Papst, noch eine arbeitsfähige Regierung hatte. Wie haben Sie als Philosoph dieses Vakuum wahrgenommen?
Alain de Botton: Es gibt nicht besonders viele Länder auf der Welt, vielleicht zehn, von denen man sagen könnte, dass sie ordentlich regiert werden. Sie haben effiziente Standards, eine funktionierende Polizei, wenig Korruption etc. Deutschland gehört dazu, Italien nicht. Das ist ein sehr trauriger Zustand, es ist schließlich ein Land, aus dem die Renaissance hervorging, es war Vorreiter in der Architektur, in der Musik und im Denken. Es kommen immer noch wunderbare Dinge aus Italien. Aber es bekommt seine Politik einfach nicht in den Griff. Das ist ein Desaster.

Das Schulsystem in Italien zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass Philosophie als Pflichtfach für alle verbindlich ist…
de Botton: Das macht es nur noch umso trauriger, denn das scheint an der Lage Italiens nichts zu ändern. Das Fach Philosophie verfehlt bei den Italienern offenbar seine Aufgabe. Vielleicht wird es aber auch zu oft zu schlecht unterrichtet.

Wäre es zur Zeit vielleicht am besten, dem neuen Papst Franziskus auch die weltlichen Regierungsgeschäfte in Italien zu übergeben?
de Botton: (Lacht) Naja, das würde ich natürlich nicht empfehlen. Es war ja immer ein wichtiges christliches Prinzip, Staat und Kirche zu trennen. Man denke nur an Jesus berühmtes Wort: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Das war die Grundlage einer extrem fortschrittlichen Aufteilung von spiritueller und weltlicher Macht. Das ist ein Schritt, den der Islam nie gemacht hat, zu seinem Nachteil. Das Christentum hat von dieser Aufteilung gewaltig profitiert. Es ist wunderbar, wenn eine Gesellschaft das Gefühl hat, dass staatliche Macht nicht an eine spirituelle Macht gebunden sein muss.

Aber wird die Trennung von Staat und Kirche nicht zumindest rhetorisch aufgeweicht, wenn sich westliche Politiker auf die Bibel als Fundament ihrer Gesellschaft berufen?
de Botton: Ich bin als Atheist nicht besonders daran interessiert, meinem Staat ein religiöses Fundament zu attestieren. Ich kann allerdings Weisheit als Weisheit identifizieren, unabhängig davon, in welchen Kontexten sie existiert. Wenn sie innerhalb einer religiösen Struktur existiert, sollte sie von jedermann auch angenommen werden, nicht nur von religiösen Menschen.

Gerade ist in Deutschland Ihr Buch „Religion für Atheisten“ erschienen. Wird es eigentlich auch in der arabischen Welt publiziert?
de Botton: Bis jetzt wohl noch nicht. Aber ich wäre natürlich sehr froh, wenn es auch auf Arabisch übersetzt werden würde.

Glauben Sie, dass es zu einer Reformation des Islam kommen wird?
de Botton: Ja, aber bis dahin werden wohl nochmal 300 Jahre vergehen. Wir neigen zur Ungeduld, was diese Prozesse angeht, aber die Geschichte hat uns gelehrt, dass diese Dinge Zeit brauchen.

Ihrem neuen Buch zufolge, braucht auch der Atheismus nun eine Reformation.
de Botton: Ja, absolut. Ohne Religion zu leben ist ein ziemlich neues Experiment. Wir Atheisten haben noch viel zu lernen, wie wir ein gutes Leben außerhalb von Religionen führen können. Die Religionen sind ja voller extrem interessanter Ideen, Gedanken, Praktiken, Rituale. Die entgehen allerdings jenen, die sagen: Ich glaube nicht an Gott, also gibt es auch nichts, was ich aus Religionen lernen könnte.

Beim Lesen Ihres Buches erscheint einem die Aussage von Karl Marx, Religion sei „das Opium des Volkes“, wie ein Irrtum. Nach de Botton würde ‚Psychotherapie des Volkes‘ wohl eher zutreffen.
de Botton: Es gab immer zwei Elemente in den Religionen. Das eine könnte man den Opium-Teil nennen, das anderen den Therapie-Teil. Sie unterscheiden sich so, wie sich das Übernatürliche von der Psychologie unterscheidet. Wenn versprochen wird, dass es ein ewiges Leben gäbe, dass Gott einem tatsächlich zuhört, dann wirkt das wie Opium. Die andere Seite enthält aber psychologische Weisheit. Das Zusammenkommen als Gemeinschaft, das gemeinsame Singen, sich gegenseitig zu helfen, die Menschen nicht nur für ihre Macht zu respektieren, sondern für sie selbst. Freundlich sein – diese Kennzeichen von Religionen existieren unabhängig vom Übernatürlichen. Die interessieren mich.

Sie schreiben, dass Sie einmal Zweifel an der Nichtexistenz Gottes bekommen hätten, als Sie Musik von Johann Sebastian Bach hörten. Das klingt, als sei Ihr Atheismus durchaus zu erschüttern…
de Botton: Bach war ein tief religiöser Mensch. Und er wollte, dass seine Musik den Glauben der Menschen in Gott stärkt. Bach berührt gewisse Teile des emotionalen Spektrums, wie es vielen modernen Popsongs nicht gelingt. Mit religiöser Architektur ist das ähnlich. Man kann als Nichtgläubiger in eine Kathedrale gehen und sehr bewegt sein. Diese Gefühle sind wichtig, sie können einem helfen, aber ich würde nicht sagen, dass sie unbedingt mit einem Glauben verbunden sein müssen. Was uns Bach und diese Kathedrale lehren, ist allgemeingültiger, als es religiöse Menschen manchmal zugeben möchten.

Zitiert

Ohne Religion zu leben ist ein ziemlich neues Experiment.

Alain de Botton

Also muss man Ihrer Meinung nach nicht unbedingt vom Glauben abfallen. Man kann auch religiös bleiben, täte aber gut daran, den Glauben nicht engstirnig zu praktizieren?
de Botton: Seine Beziehung zur Religion offener zu gestalten, wäre in der Tat eine gute Möglichkeit. Mir geht es allerdings eher darum, wie man als Atheist die Religionen kopieren und imitieren, wie man von ihnen inspiriert werden kann.

Sie empfehlen zum Beispiel, den jüdischen Feiertag Jom Kippur, auch Versöhnungstag genannt, zur Nachahmung. Wenn Sie alle Menschen dazu bringen würden, sich einmal im Jahr gegenseitig zu verzeihen, würden Sie sich alle Rechtsanwälte zu Feinden machen.
de Botton: (Lacht) Ja, die hätten dann möglicherweise keinen Job mehr. Aber Rechtsanwälte handeln ja auch nicht nach religiösen Vorschriften. Sie versuchen auch nicht wirklich, Konflikte zu lösen. Sie trennen Menschen voneinander; sie gehen dazwischen, wenn Menschen sich streiten.
Religiösen Vorschriften liegt oft eine sehr ausgefeilte Psychologie zugrunde. Sie ermutigen die Menschen, einander anzunehmen, sich zu mögen. In dieser Tätigkeit sind Religionen wirklich einzigartig. Aber das sollten sie nicht sein.

Sie schlagen außerdem vor, das Ritual des Abendmahls zu seinem Ursprung zurück zu führen und zu diesem Zweck sogenannte Agape-Restaurants einzurichten. Das klingt wie eine Idee aus der Hippie-Ära.
de Botton: Ja, aber das spricht nicht gegen sie. Die wachsende Einsamkeit ist doch ein signifikantes Merkmal unserer modernen Gesellschaft. Sie ist der Preis, den wir für unseren technischen Fortschritt zahlen müssen. Die Religionen bieten da ein Gegenmittel, sie bringen die Menschen zusammen. Ich habe in der letzten Zeit sehr häufig religiöse Menschen danach gefragt, was sie an ihrer Religion schätzen. Und die meisten sagen: Ich bin einfach gerne in Gemeinschaft. Ich bin gerne mit Freunden zusammen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. In einem Agape-Restaurant kämen Menschen aller Klassen zusammen, um nach einem vorgegebenen Ritual miteinander zu speisen, zu reden, Gemeinschaft zu haben. Wir haben tausende von Bars, Restaurants, Kinos – trotzdem sind wir immer noch sehr ängstliche Kreaturen, die in dem anderen erst mal einen möglichen Feind sehen.

Eine ängstliche Gesellschaft ist eben leichter zu kontrollieren.
de Botton: Und sie shoppt mehr. In einer ängstlichen, einsamen Gesellschaft wird mehr eingekauft, konsumiert. Manchen hilft das eben.

Ihre Visionen von Gemeinschaft ließen mich an die Olympischen Spiele 2012 in London denken. Haben Sie deren Eröffnungszeremonie gesehen?
de Botton: Ja, und es war unglaublich schön, eine bewegende Erfahrung. Die Olympischen Spiele der Neuzeit sind gerade mal 120 Jahre alt und sie zeigen, dass es sich lohnt, so etwas zu erfinden. Es funktioniert, es bringt Leute zusammen. Während der Olympiade war London für zwei Wochen eine außergewöhnliche, sehr freundliche Stadt. Der Sport hatte das zwar möglich gemacht, aber der Anlass hätte auch ein anderer sein können. Die meisten Menschen sind nunmal eher freundlich. Wir werden nur zu selten dazu ermutigt, das auch zu zeigen.

Bei der Olympiade treten verschiedene Länder gegeneinander an. Welche Rolle spielt für Sie der Glaube an ein Land, oder anders, der Nationalstolz?
de Botton: Der Stolz auf ein Land ist eine komplizierte Sache. Vor allem in Deutschland, wo das historisch stark mit dem Stolz auf die falschen Dinge konnotiert ist. Aber eigentlich ist dieser Stolz – oder anders gesagt: das Gefühl, nicht nur mit sich selbst und seinem unmittelbaren Umfeld verbunden zu sein – etwas Gutes. Wir werden ja in der Regel dazu angehalten, alles in uns selbst und unsere Familie zu investieren. Das ist ein sehr enger Kreis und es ist langfristig schwer, Glück zu empfinden, wenn man sich auf diesen engen Kreis beschränkt. Man braucht etwas Größeres, wie eine Religion. Es kann einen Gruppengedanken fördern, die Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen, fröhlich zu sein.

Sie werben in Ihrem Buch auch für das Konzept einer „Elektronischen Klagemauer“. Wird Facebook nicht zuweilen bereits als eine solche genutzt?
de Botton: Absolut. Das Internet hat erreicht, dass wir einige Geheimnisse mit jedem anderen zu teilen bereit sind. Dazu gehört auch unser Schmerz. Ich habe mal eine Seite gesehen, die nur für solche anonym geteilten Geheimnisse eingerichtet worden war. Da stand dann „Ich bin nicht glücklich verheiratet“, „Ich habe eine Affäre“ oder „Ich fühle mich von meinem Lehrer angezogen.“ Das ergab ein recht bewegendes Portrait von Menschen in Not und ließ erahnen, wie viele Geheimnisse unser zivilisiertes Leben uns abverlangt – und wie schwierig das ist.

Wenn man davon ausgeht, dass Religionen aus unserem Bedürfnis entstanden sind, uns selbst und die Welt, in der wir leben besser zu verstehen – machen religiöse Menschen dann schlicht den Fehler, die Erklärung ihres Lebens mit dem Sinn des Lebens zu verwechseln?
de Botton: Das könnte man so sagen. Und Menschen, die diesen Fehler vermeiden, verneinen darüber oft ihre Bedürfnisse. Die Frage sollte nicht lauten: Haben Religionen Recht? Die Fragen sollten sein: Wozu sind Religionen eigentlich gut? Warum gibt es sie? Wir sollten Antworten auf diese Fragen finden und sie analysieren. Wenn wir das tun würden, wäre das ein großer Fortschritt für unsere säkulare Gesellschaft.

Sie haben in diesem Interview einige positive Aspekte von Religion erwähnt – was macht es Ihnen selbst denn eigentlich unmöglich, zu glauben?
de Botton: Ich weiß nicht, warum ich nie religiös geworden bin. Ich konnte nie glauben, das erschien mir implausibel. Doch warum es mir implausibel erschien, kann ich nicht wirklich sagen. Ich denke, was diese Fragen angeht sind wir Menschen ziemlich rätselhaft.

Zumindest haben Sie Ihre Söhne Samuel und Saul genannt, so hießen auch zwei bedeutende historische Persönlichkeiten, die im Alten Testament beschrieben sind.
de Botton: Das stimmt, aber da würde ich nicht zu viel reininterpretieren. Der biblische Saul hatte zuweilen ein ziemlich unglückliches Leben und das wünsche ich meinem Sohn natürlich nicht.

Ein Kommentar zu “Wir Atheisten haben noch viel zu lernen”

  1. A.H.Driskel |

    Sonderbar

    Der Atheismus steht dem Theismus gegenbüber. Der Theismus funktioniert nur, wenn er an eine Religion gebunden ist. Religionen müssen aber keinen Theismus besitzen. Sie sind völlig unabhängig davon.

    Glaube ist frei und unabhängig von der Religion und vom Theismus. Gerechtigkeit, Menschenrechte und anderes sind alles Dinge, die eines Glaubens bedürfen, dabei spielt es aber keine Rolle, woher dieser kommt. Es ist dumm, frevelhaft und primitiv, den Glauben immer gleich mit Religion und Theismus zu verbinden.

    Opium unterdrückt das Hungergefühl, war daher bei hungrigen Leuten sehr beliebt . Diesen historischen Fakt sollte man bei der Interpretation bedenken.

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