Corinna Harfouch

Es ist nicht einfach, sich wirkliches Elend, wirklichen Hunger, wirkliches Leiden vorzustellen.

Corinna Harfouch über die tschechische Schriftstellerin Božena Nemcová, die Arbeit am Theater, ihr Helfersyndrom und ihre frühere Arbeit als Krankenschwester

Corinna Harfouch

© Movienet Filmverleih

Frau Harfouch, Ihr Film "Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern" über die tschechische Schriftstellerin Božena Nemcová basiert auf drei Briefen, die Nemcová kurz vor ihrem Tod geschrieben hat. Was hat Sie an diesen Briefen berührt?
Harfouch: In diesen Briefen schimmert auf eine ganz besondere Art und Weise durch, wie jemand versucht, ein besseres Leben zu beschwören. Wie sie jeden Brief anfängt und wieder abbricht und fast denselben noch einmal beginnt, darin spürt man, wie sie versucht, über das Schreiben in eine lebensmögliche Situation zu kommen oder sich überhaupt in einer Art von denkbarem Leben zu halten. In diesem Abbrechen spürt man direkt, wie ihr die Feder aus der Hand fällt und die Geister ihres Lebens, die es ihr so schwer gemacht haben, immer wieder hereinbrechen.

Die Briefe hat Nemcová unter extremen Bedingungen geschrieben. Sie war einsam, krank, völlig mittellos…
Harfouch: Ja, irgendwann hat man ihr in der Pension, in der sie untergekommen war, kein Essen mehr gebracht und es war bitterkalt, weil nicht mehr geheizt wurde. Sie konnte aber auch nicht weg, weil von ihrem Verleger, für den sie eigentlich eine Gesamtausgabe ihrer Werke erstellen sollte, kein Geld mehr kam, weil sie nichts mehr lieferte. Eigentlich war sie körperlich gar nicht mehr im Stande, zu arbeiten und hat quasi schreibenderweise versucht, sich am Leben zu halten. Sie ist dann in einen komatösen Zustand, in eine Art Delirium gefallen. All das habe ich beim Lesen der Briefe zwar nicht direkt empfunden, trotzdem haben sie irgendwie zu mir gesprochen. Auch wenn ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, wie man daraus einen Film machen sollte.

Božena Nemcová hat im 19. Jahrhundert gelebt, zu einer Zeit, in der es Frauen kaum möglich war, selbstbestimmt zu leben. Ist es nicht schwierig, sich in eine Figur zu versetzen, die unter Bedingungen gelebt hat, die den heutigen derart fremd sind?
Harfouch: Ja, ich fand das schwierig. Ich habe zwar viel über sie gelesen und mit der Zeit reichert sich sehr viel an. Aber sich wirkliches Elend, wirklichen Hunger, wirkliches Leiden vorzustellen und wie man dann die Kraft hat, überhaupt nur eine einzige Zeile zu schreiben, ist nicht einfach. Für uns, die wir meistens in sehr angenehmen Umständen leben und gut versorgt sind, ist es ja nahezu unvorstellbar, wie der Lebenswille einen Menschen so Unglaubliches tun lässt – nur um weiterzuleben, um nicht einfach so zu sterben. Man kann sich dem nur annähern. Ich selbst, glaube ich, könnte das nicht.

Kurz bevor Nemcová stirbt, holen sie ihre Tochter und ihr Mann, unter dem sie sehr gelitten hat, nach Hause. Diese Situation ist durchaus zwiespältig und man fragt sich, was schlimmer ist: einsam in der Fremde zu sterben oder in ein Zuhause zurückzukehren, dem man eigentlich entfliehen wollte?
Harfouch: Ich habe das auch als sehr zwiespältig empfunden. Geholfen hat mir die Vorstellung, dass es für einen winzigen Moment so etwas wie Versöhnung gibt. Dass man sich in einer Situation gar nichts mehr sagen muss. Dass man einfach annehmen und plötzlich verzeihen kann. Es hat etwas Versöhnliches, dem Leben zuzugestehen, dass der, der einen gequält hat, einem jetzt hilft. Das Leben hat ja so viele wahnsinnige Momente für uns, in denen wir uns zu bewähren haben und in denen wir Dinge empfinden, die wir uns nie hätten vorstellen können. Das ist zwiespältig, aber das Leben ist so.

Božena Nemcová ist in Tschechien ein Idol, in Deutschland dagegen nahezu unbekannt. Warum wissen wir so wenig über diese Frau?
Harfouch: Sie ist eine Nationalheldin, viel mehr als nur eine Dichterin und Frau, die in einer Zeit gelebt hat, in der es für Frauen schier unmöglich war, zu schreiben, mit vier Kindern und einem Mann, der gar nichts davon versteht. Tschechien, diese kleine Nation, wurde für viele Jahrhunderte immer wieder von Fremden beherrscht. Es gab deshalb immer wieder literarische Strömungen und Bestrebungen, über die Sprache eine Identität zu formulieren. Ihr bekanntestes Buch "Die Großmutter" ist deshalb nur zu begreifen, wenn man auch weiß, welche Bedeutung es für die nationale Bewegung hatte. Sie beschreibt darin Helden aus dem Volk und findet für deren schweres Leben eine Sprache – eine Poesie, die voller Sehnsucht und Schönheit ist, trotz der unglaublichen Kargheit und Ärmlichkeit, in der die Menschen gelebt haben.

Neben der Arbeit vor der Kamera spielen Sie viel Theater. Sie haben mal gesagt, die Bühne sei ein Ort der Geborgenheit und Ruhe für Sie.
Harfouch: Ja, ich war ein unglückliches Kind und außerdem noch eine schlechte Schülerin. Als ich dann angefangen habe, Theater zu spielen, habe ich Bestätigung und Anerkennung erfahren. Ich habe mich auf der Bühne zu Hause gefühlt. Hier war ich richtig, auf einmal konnte ich etwas. Das Theater ist also ein Raum, in dem ich mich auskenne. Auf der Bühne hat alles ein Maß, mit dem ich sehr gut umgehen kann. Der Probenprozess zum Beispiel hat etwas so Schönes, weil er einen Anfang und ein Ende hat. Der Schrecken hat ein Ende, das Leiden hat ein Ende. Alles geht auf ein Ziel zu und ist überschaubar. Draußen in der Welt ist alles unendlich. Als Kind hat mich das wahnsinnig erschreckt.

Am Deutschen Theater in Berlin spielen Sie derzeit die Martha in "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", ein Stück, das von der selbstzerstörerischen Kraft zweier Eheleute erzählt. Wie schaffen Sie es, nach einer derart aufwühlenden Vorstellung emotional wieder auf ein normales Level zu kommen?
Harfouch: Ganz ehrlich, nach dem Stück – vorausgesetzt, es war eine gute Vorstellung, was nicht immer der Fall ist – bin ich auf eine angenehme Weise leer. Ich kann dann gut nach Hause gehen oder genauso gut mit anderen zusammen sein. Ich bin einfach nur froh, zufrieden – ja, erlöst.

Wird es mit der Zeit eigentlich einfacher, sich eine Rolle zu erarbeiten, weil man erfahrener ist und das Handwerk beherrscht? Oder wird es schwieriger, weil man die Messlatte höher und höher hängt?
Harfouch: Ich finde, es wird schwieriger. Das viele Wissen und der Anspruch, den man an sich hat, machen es einem schwerer, glücklich zu sein mit den Dingen. Am Theater ist man zudem sehr von den Konstellationen abhängig. Die Konstellation ist das A und O, weil man ja nichts alleine erreicht. Das ist das Schöne, aber eben auch das Schwierige. Denn wie sich das Stück, die Partner, der Regisseur zusammenfügen, weiß man vorher nie. Nicht einmal dann, wenn man vorher schon einmal zusammen gearbeitet hat und es gut war. Der Gegenstand ist immer ein anderer, vielleicht sind die Partner anders, vielleicht ist man selbst auch in einer ganz anderen Situation. Bei "Virginia Woolf" war die Konstellation ausgesprochen schön. Eine sehr intensive Lebenszeit.

Immer wieder eine neue Produktion, ein neues Team, neue Situationen – ist das nicht furchtbar anstrengend?
Harfouch: In letzter Zeit kommt es schon mal vor, dass es mir zu viel ist, mich immer wieder auf neue Menschen einzulassen. Wenn wieder so eine extreme und künstliche Sofort-Intimität hergestellt werden muss, empfinde ich manchmal keine so große Lust mehr dazu. Das sind Signale, auf die ich sehr genau höre und die mir auch Angst machen. Denn wenn ich wirklich die Lust an dem Ganzen verliere und es zur reinen Qual wird – was mache ich dann? Ich hoffe aber, mir wird dann schon was einfallen. Und natürlich möchte ich spielen, bis ich nicht mehr spielen kann. Früher dachte ich immer, ich höre irgendwann einfach auf. Aber das wird wohl doch nicht so sein.

Das heißt, Sie brauchen auch mal Abstand von allem und können gut allein sein?
Harfouch: Ja, ich muss allein sein. Ich brauche auch eine Beziehung, in der nicht alles so eng ist. Ich muss einfach viel allein sein, um all die sehr verschiedenen Dinge machen zu können, die mich interessieren oder auch mal gar nichts zu machen. Bei meinen Freunden ist es mir zum Beispiel gar nicht so recht, wenn die sich alle untereinander kennen und treffen.

Sie sind also kein Cliquenmensch?
Harfouch: Nein, überhaupt nicht.

Sie haben mal gesagt, Sie hätten ein Helfersyndrom. Wie äußert sich das?
Harfouch: Na ja, früher hatten wir zu Hause nicht wirklich viel Geld. Im Vergleich dazu geht es mir heute finanziell sehr gut. Wenn ich also heute Geld habe, muss ich das irgendwie kompensieren, indem ich anderen davon abgebe. Ich pflege zum Beispiel auch gern. Ich laufe zur Hochform auf, wenn irgendjemand krank ist. Dann kommt meine dienende Seite zum Vorschein. Ich liebe das. Ich muss auch immer jemanden mit meiner Kochkunst beglücken.

Haben Sie deshalb eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, bevor Sie zur Schauspielerei kamen?
Harfouch: Das war mehr oder weniger Zufall. Das Krankenhaus, in dem ich gelernt habe, lag nur wenige Meter neben dem Haus, in dem ich gewohnt habe. Ich hatte Abitur gemacht und mich an der Schauspielschule beworben, bin dann aber nicht durch die Aufnahmenprüfung gekommen. Ich wollte aber nicht studieren, aus Angst, ein Leben lang etwas machen zu müssen, was ich eigentlich gar nicht will. Die Arbeit als Krankenschwester war etwas sehr Schönes für mich, was mich erfüllt und glücklich gemacht hat. Vielleicht aber auch nur deshalb, weil ich wusste, dass ich nicht für den Rest meines Lebens Krankenschwester bleiben würde. Ich habe in dieser Zeit erkannt, dass es etwas sehr Wichtiges im Leben ist, für andere zu sorgen.

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